Mein Herz ruft deinen Namen
Stückchen Land?
Wir hätten es auch so gemacht, meinst du nicht?
Als wir nach Rom umziehen mussten wegen meiner Anstellung im Krankenhaus, warst du gar nicht glücklich. »Der Beton überschwemmt mich«, sagtest du. »Mit Beton in den Adern kann ich nicht mehr träumen.« Deswegen haben wir entschieden, im Stadtviertel Monteverde zu wohnen. Dort konntest du zu Fuß den großen Park von Villa Pamphili erreichen und dich von den Giften reinigen, die du so sehr fürchtetest.
Doch allmählich gelang es dir dann, auch der Großstadt positive Seiten abzugewinnen, du lerntest viele Leute kennen, die die gleichen Interessen hatten wie du, und warst sicher, in kurzer Zeit das Kindergartenprojekt realisieren zu können, das dir so am Herzen lag.
An manchen Sommerabenden jedoch, wenn durch die geöffneten Fenster die Hitze des Asphalts heraufstieg – und dazu noch der Lärm und der Gestank der Autos –, schmiegtest du dich auf dem Sofa an mich und sahst mich an: »Wir bleiben aber nicht für immer hier, oder?«
So begannen wir, uns unser zukünftiges Leben auszumalen, wenn wir – die Kinder längst erwachsen, vielleicht sogar eine kleine Enkelschar – ein schönes Landhaus haben würden, um sie alle aufzunehmen. »Ich werde Marmelade kochen«, sagtest du, »ich werde Blumen und Gemüse ziehen und auf dem Rasen weiße Kaninchen wie die von Alice im Wunderland laufen lassen …«
»Und womöglich fangen sie eines Tages zu sprechen an.«
»Selbstverständlich, bestimmt werden sie sprechen und die Hühner auch.«
An den langen Winterabenden – die hier oben schon um vier Uhr nachmittags anfangen – versuche ich manchmal, mir vorzustellen, wie sich dein Gesicht verändert hätte. Graue oder weiße Haare, wie viele Falten und welche? Und dein Wesen? Wäre es dir gelungen, dir deine freudige Frische für immer zu bewahren, oder hätte irgendwann irgendeine Form von Enttäuschung die Oberhand gewonnen? Enttäuschung über deine Arbeit, über mich, über die Kinder. Vielleicht hätte auch ich im Lauf der Jahre die Fähigkeit verloren, an deiner Seite zu sein – die Routine, die Karriereprobleme, die normale Erstarrung, die uns Männer unvermeidlich einholt, hätten mich vielleicht in einen Ehemann wie alle anderen verwandelt, immer in Eile, zerstreut, möglicherweise noch voller Begehren oder Bedauern. Oder wer weiß, mit fünfzig hättest du auf einmal durch eine SMS auf dem Handy herausgefunden, dass die junge Krankenschwester, die mir assistierte, schon länger meine Geliebte war.
»Alles steht schon geschrieben«, sagtest du oft.
»Woher willst du das wissen?«, fragte ich skeptisch.
»Ich weiß es, und fertig«, erwidertest du achselzuckend.
Wir waren jung, standen mitten im praktischen Leben; ich mehr als du, wegen meines Charakters und meiner Arbeit. Ab und zu ließest du mich einen Schimmer erahnen, der dann in meinem Inneren weiterwirkte und eine unerklärliche Unruhe auslöste.
»Warum sagst du das?«, fragte ich dich. »Was siehst du, was ich nicht sehe?«
Du lächeltest geheimnisvoll: »Eines Tages wirst du es verstehen.«
Sahst du diesen Tag?
Und wenn du ihn sahst, warum hast du dann nicht das Programm geändert, warum hast du nicht gesagt: »Lass uns zu Hause bleiben, wir fahren ein andermal hin?«
Warum denkt man, wenn etwas nicht wieder Gutzumachendes geschieht, nur noch daran, wie man es hätte vermeiden können?
Wenn man rechts abgebogen wäre anstatt links … wenn du im Bett geblieben wärst und weitergeschlafen hättest … wenn du den Anruf nicht angenommen hättest …
Auf jede Tragödie folgt eine Flut von »Wenns«, und diese Fragen wiegen schwer wie ein Rucksack voller Steine, und wer die Tragödie miterlebt hat, trägt ihn für immer auf den Schultern. Wenn man sich an den »Wenns« entlanghangelt – als ob es ein Seil wäre, das uns zugeworfen wird, um uns zu retten –, wird einem klar, dass auf ein »Wenn« stets ein weiteres folgt und dann noch eines und noch eines. Man streckt die Hand aus, überzeugt, es sei das letzte, und findet immer noch weitere, sodass man sich zuletzt, bevor man erschöpft umfällt, ergeben muss. Das einzig gültige »Wenn«, das alle anderen in sich birgt, ist nur eines:
Wenn ich nie geboren worden wäre.
Wenn es an diesem sonnigen Novembersonntag geregnet hätte, wären wir zu Hause geblieben.
Ebenso, wenn Davide oder ich Fieber gehabt hätten.
Es hätte auch passieren können, dass mir jemand in der Nacht davor das Auto geklaut
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