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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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denn?«
    »Gibt es auch dafür einen Bereich im Gehirn, der das erklärt?«
    »Ja, natürlich.«
    »Dann war Ihr Schmerz die reine Chemie?«
    »Solche Fragen können Sie mir nicht stellen.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich hier das Interview führe.«
    »Aber Interviews sind doch ein Dialog. Sie sind hergekommen, weil Sie neugierig auf mich waren, ich habe Sie nicht darum gebeten. Sie wollten herausfinden, wer ich bin, Sie haben sich vorbereitet, sind auf den Berg gestiegen, und jetzt können Sie nicht akzeptieren, dass ich nicht so bin, wie Sie gehofft hatten. Ich habe den Eindruck, dass Sie im Geist immer die gleiche Autobahnstrecke zurücklegen, an der Auffahrt wissen Sie schon genau, wo Sie wieder abfahren, Sie kennen die Landschaft auswendig, die Häuser, die Wohnblöcke, die Felder, die Industriehallen, alles ist da aufgereiht, um die Richtigkeit Ihres Wegs zu bestätigen. Nie ziehen Sie ein mögliches Risiko in Betracht.«
    »Und was wäre das Risiko?«
    »Dass man staunt.«
    »Und warum sollte ich staunen?«
    »Weil Sie plötzlich entdecken, dass etwas anders ist, als Sie es sich vorgestellt hatten.«
    »Sie bestätigen mir gerade, was ich schon über Sie gehört hatte.«
    »Und zwar?«
    »Dass Sie ein geschickter Manipulator sind. Sie nutzen Ihre Ausstrahlung, Ihre Dialektik, der man nicht widersprechen kann, um die Menschen dahin zu bringen, wo Sie sie haben wollen. Warum tun Sie das? Aus Lust an der Macht? Um berühmt zu werden? Wahrscheinlich versprechen Sie auch Wunder … Haben Sie nie Wunder vollbracht?«
    »Alle können wir Wunder vollbringen.«
    Sie fing an zu lachen, ein kaltes, nervöses Lachen.
    »Also glauben Sie, dass Sie den Ruf verdienen, der Sie umgibt.«
    Ich seufzte.
    »Wissen Sie, was Mutter Teresa von Kalkutta zu sagen pflegte, wenn jemand kam, um sie anzugreifen? ›Jeder argumentiert auf der Grundlage der Fäulnis, die er in sich trägt.‹«
    Die Journalistin starrte mir provozierend in die Augen. Ihr Blick hatte den stumpfen Glanz von Keramik.
    »Und ich wette, dass Sie natürlich frei von Fäulnis sind. Sie sind zu vollkommen, zu rein.«
    »Im Gegenteil, ich bin voll davon bis oben hin. Ununterbrochen kämpfe ich dagegen an, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen.«
    Sie lachte und schüttelte ihre kupferroten Locken.
    »Entschuldigen Sie, aber jetzt begreife ich gar nichts mehr. Sie leben seit so vielen Jahren hier oben und sind nicht einmal ein Heiliger?«
    Daraufhin erzählte ich ihr in aller Ruhe von den Zen-Gärten, die ich in Japan gesehen hatte, von all den sorgsam auf dem Kies angeordneten Steinen und davon, dass einer von diesen Steinen immer unsichtbar bleibt, von welcher Seite man das Arrangement auch betrachtet. Dieser eine Stein – vorhanden und doch unsichtbar – ist der Teil, der in jedem Leben dunkel bleibt.
    »Und welcher Teil wäre das?«
    »Das Geheimnis der Geburt. Das Geheimnis des Todes. Das Geheimnis des Bösen, das die Zeit verwüstet, die zwischen diesen beiden Ereignissen liegt. Niemand weiß, warum er geboren wird, niemand weiß, wann er stirbt, niemand weiß, warum das Böse wie ein unaufhaltsamer Tintenstrom mit seiner Dunkelheit jeden Winkel der Schöpfung überschwemmt.«
    Sie wirkte verwirrt. »Nicht einmal Sie wissen es?«
    »Nein.«
    An diesem Punkt war es an ihr zu seufzen. »Das bestätigt mir, was ich von Anfang an geahnt habe. Irgendetwas stimmt nicht. Wenn Sie keine Antworten haben, wenn auch Sie voller Fäulnis sind, was machen Sie dann eigentlich hier oben? Warum lebt einer jahrelang im Frost, in der Einsamkeit, ohne jeden Komfort, plagt sich ab, um ein paar Rüben zu ernten und ein bisschen Käse herzustellen, noch dazu ohne Frau, ohne Sex, und behauptet, er wäre glücklich. Der macht sich doch selbst etwas vor.«
    Ich gab ihr die Frage zurück: »Und Sie? Sie leben sicher in einer Wohnung mit Heizung, haben ein Handy, Internet, einen großen Freundeskreis, Essen im Überfluss, haben Sex, wann immer Sie wollen, sind Sie damit glücklich?«
    Ihre Augen schweiften ins Leere.
    In dem Moment sprang die Katze auf den Tisch, legte sich wie eine Königin zwischen uns und begann zu schnurren.
    »Ich habe keinen Sex, wann immer ich will«, sagte sie düster.
    »Sind Sie verheiratet?«
    »Nein, ich finde einfach nicht den Richtigen dafür.«
    »Und warum brauchen Sie Sex?«
    »Um mich zu amüsieren, um mich zu entspannen, weil ich noch jung bin, weil es der Gesundheit schadet, es nicht zu machen, weil ich kein Moralapostel bin.«
    »Wäre es nicht

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