Mein Herz ruft deinen Namen
besser zu warten, bis man sich verliebt?«, warf ich ein.
»Die Liebe existiert nicht. Es gibt nur die Konventionen, und die Konventionen machen die Menschen zu Gefangenen.«
Lustlos stellte sie noch ein paar Fragen, ohne noch einmal zu lächeln. Dann verstaute sie Tonbandgerät und Notizblock in ihrer Handtasche: »Sie spielen eine Rolle, aber wie sollte man Sie tadeln? Auch ich tue das, bloß dass meine Rolle angenehmer ist als Ihre. Im Unterschied zu Ihnen habe ich keine Schuldgefühle und nicht den Drang, mich zu bestrafen. Ich versuche, mir das Beste im Leben zu nehmen, weil ich weiß, dass es nichts weiter ist als eine Komödie, und im Theater sitzt man am besten in der ersten Reihe, glauben Sie nicht?«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich, während ich ihr in den Mantel half. »Es ist gleich ein Uhr«, fügte ich hinzu, »warum bleiben Sie nicht zum Mittagessen? Ich kann ein paar Eier von meinen Hühnern braten. Gestern habe ich Brot gebacken, und es gibt auch einen recht guten Wein.«
Einen Augenblick zögerte sie, unentschieden; in ihren Keramikaugen erschien ein winziger Schimmer.
»Bleiben Sie?«, hakte ich daraufhin nach.
Sie zwinkerte heftig.
»Ich kann nicht. Ich muss vor Ende des Tages in Mailand sein. Vielleicht ein andermal.«
»Kommen Sie denn wieder?«
Auf ihrem Gesicht erschien das Lächeln eines außergewöhnlich traurigen Kindes.
»Ich glaube, das Material reicht für meinen Artikel.«
»Können Sie nicht für sich selbst wiederkommen?«
»Für welche meiner Masken?«, lächelte sie und verschwand mit kaum weniger sicherem Schritt als bei ihrer Ankunft in Richtung Tal.
9
Ich hätte gern noch länger mit dieser Frau gesprochen, sie war so voller Schmerz. Eine Scheibe trennte ihren Kopf von ihrem Herzen. Wie viele Menschen ich in diesem Zustand hier ankommen sehe! Innerlich gespaltene, zerbrochene Menschen, der Kopf voller Gedanken und der Körper leer, nicht vorhanden oder in einem unsichtbaren Panzer gefangen – dem Panzer der Ideen, einer Weltanschauung, einer physischen Effizienz, die reiner Schein ist. Ab und zu kommen hierher Männer, die richtige Muskelkathedralen sind; mit mächtigen Schritten überqueren sie die Wiese, doch sobald sie vor mir stehen, erkenne ich in ihren Augen das verängstigte Kind.
Vielleicht vergessen wir zu häufig, dass in uns noch der Urmensch lebt, ein Mensch, dessen Überlebensregeln sich gar nicht sonderlich unterscheiden von denen der großen Menschenaffen. Das gesamte Funktionieren unseres Organismus kündet davon. Wir sind dafür geschaffen zu flüchten, uns zu verteidigen, anzugreifen, zu versuchen, unbedingt zu überleben. So gesehen, sind wir recht einfache Geschöpfe, wir kennen die Umwelt, die möglichen Gefahren, und dem passen wir unsere Reaktionen an. Doch unsere Umwelt hat sich viel rascher weiterentwickelt als wir, wahrscheinlich ist uns die Situation auch deshalb entglitten. Überall gibt es Stressfaktoren, die wir biologisch nicht begreifen und deshalb nicht kontrollieren können. Dieses ständige Gefühl, der Willkür des Unbekannten ausgesetzt zu sein – und das Unbekannte ist die Bedrohung, die Möglichkeit eines Angriffs, der die Stabilität unserer Tage erschüttern kann. Deshalb gleichen die Menschen von heute einer Geige, deren Saiten bis zum Anschlag gespannt sind. Die Saiten sind das sympathische System – dieses verwandelt jede Geste, jeden Gedanken in ein krampfhaftes Zucken. Manche Menschen, die empfindsamsten, ahnen das und sagen, wenn sie hier oben ankommen, als Erstes: »Ich brauche dringend Entspannung.« »Hier gibt es aber keine Whirlpools«, scherze ich dann für gewöhnlich. »Ich könnte Ihnen im Gemüsegarten helfen oder die Schafe auf die Weide bringen …«
Der Urmensch schenkt uns das Gespür dafür, was nötig ist, um den eisernen Griff des sympathischen Systems zu lockern: in der Erde, auf der Erde sein, die Samen auf ihrem Weg begleiten, gießen, jäten, die Früchte ernten, die Schafe und Lämmer in der Wärme des Stalls schützen. »Wie glücklich ich bin«, sagen die Gäste oft nach ein paar Tagen dieses Lebens und seufzen tief. Es ist das Zwerchfell, das sich entspannt, sich wieder der Kommunikation zwischen Kopf und Bauch öffnet, dem Sitz des zweiten – ebenso wichtigen – Gehirns. Nahe an seinen Wurzeln kann der Mensch sich gestatten, erneut in seiner Ganzheit zu existieren.
Wünschen sich nicht vielleicht deshalb die meisten Menschen, wenn sie in Rente gehen, ein kleines
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