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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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und nie gelang es mir, das zu finden, was ich suchte; als bewegte ich mich im Dämmerlicht einer großen, leeren Kathedrale – ich hörte meine Schritte hallen, doch deine waren nicht mehr neben mir –, alles dröhnte um mich herum. Es muss dieses Dröhnen gewesen sein, das alles beben ließ; das Beben verwandelte sich in ein Zittern, das ich nicht mehr kontrollieren konnte – ich war nicht mehr ich, sondern ein Kartenhaus, und wie ein Kartenhaus brach ich plötzlich zusammen. Als ich wieder aufwachte, befand ich mich an einem Ort, den ich nicht kannte, und mein Vater saß neben mir. »Ich habe so gehofft, dass wenigstens du davongekommen bist«, sagte er und umarmte mich.
    In meinem Kopf war Nebel. Nebel, Müdigkeit und ein Gefühl der Unwirklichkeit.
    Warum war ich da?
    Was war passiert?
    Ich spürte etwas Bedrohliches um mich herum, begriff aber nicht, was. Erst als mein Vater meine Hand zwischen die seinen nahm und unter Tränen zu mir sagte: »Du musst jetzt tapfer sein, wir müssen tapfer sein«, erst da sah ich plötzlich im Geist den Feuerball wieder vor mir, der unten an der Böschung brannte.
    Aus dem Krankenhaus entlassen, musste ich mich um die praktischen Dinge kümmern. Ich sage: »ich musste«, bin mir aber nicht sicher, ob wirklich ich das war. Einer ging auf die Polizei, beantwortete monoton ihre Fragen, ein anderer ging zum Beerdigungsinstitut, wählte, bezahlte, und wieder ein anderer antwortete in gefasstem, vernünftigem Ton: »danke«, als all die Menschen ihm die Hand drückten, ihn umarmten und murmelten: »Mein Beileid … Wie schrecklich … Ich bin dir nahe …«
    Nach den Erkenntnissen der Straßenpolizei gab es keinerlei Bremsspuren, und dies sprach deutlich für eine bewusste Handlung. »Wenn Sie wüssten, wie viele«, sagte der Chef der Patrouille bedauernd zu mir, »wie viele diesen Viadukt wählen …«
    Auch Ettore wurde verhört und bewies anhand der Papiere, dass er das Auto vor dem Verkauf gründlich hatte überholen lassen.
    Schwach versuchte ich, immer wieder zu sagen: »Nein, Nora war nicht depressiv. Nein, wir hatten nicht gestritten.« Manche nickten: »Natürlich, natürlich«, sie wollten nur möglichst schnell weg, andere dagegen insistierten: »Die, bei denen man es niemals vermuten würde, die tun es; wer darüber redet, tut es nicht, gerade die, die schweigen, die bringen sich dann um.«
    Obwohl alle hartnäckig betonten, was sie für offensichtlich hielten, weigerte ich mich, es zu glauben – du warst in das Leben verliebt, warum hättest du es dir nehmen und es auch deinem Sohn und dem Kind in deinem Bauch vorenthalten sollen?
    »Manchmal ist der Selbstmord die Besiegelung eines Augenblicks von höchster Schönheit«, sagte eines Tages ein Freund zu mir, der sich mit orientalischen Dingen beschäftigte.
    War es so?
    War jener Tag in den Bergen der Abruzzen für dich so erhaben, dass du beschlossen hast, ihn mit deinem Ende und dem Ende deiner Nachkommenschaft zu verewigen?
    Und ich, was war ich dann, ein Statist im Hintergrund?
    Waren wir etwa nicht – vierzehn lange Jahre – einer des anderen Sinn gewesen?
    Und spiegelte sich dieser Sinn nicht in Davide wider und in dem Kind, das du erwartetest und in den anderen Kindern, die uns die Zeit und unsere Liebe noch gewähren würden?
    Dieser Zustand sonderbarer Unwirklichkeit verschwand, sobald ich unsere Haustüre aufschloss, nachdem ich einige Tage bei meinen Eltern geblieben war. Niemand hatte die Wohnung seitdem betreten. Wir waren an jenem Tag eilig gegangen und hatten die übliche Unordnung hinterlassen. Auch darin waren wir so verschieden! Ich faltete am Abend meine Kleider ordentlich auf einem Stuhl, während du deine aufeinanderwarfst, bis regelrechte Hügel entstanden. Wenn ich dich mahnte, du seiest zu unordentlich, lächeltest du spöttisch: »Wenn ich tatsächlich unordentlich wäre, würde ich nichts wiederfinden, da ich aber immer alles finde, heißt das, dass ich gar nicht unordentlich bin. Nicht jede Ordnung muss so streng wie beim Militär sein, es gibt auch Phantasieordnungen.«
    Deine Phantasieordnung kam mir sofort entgegen. Als Erstes deine Pantoffeln, einer neben der Tür und einer weiter hinten, als hättest du sie im Hinausgehen nacheinander abgeschüttelt; auf dem Sofa das Buch, das du am Vorabend gelesen hattest, und darunter, auf dem Boden, noch sechs oder sieben Bände – für dich waren Bücher wie Pralinen, du probiertest eins und dann noch eins und noch eins, bis du eines

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