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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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hörte beifällig zu, meine Mutter dagegen hüllte sich in eisiges Schweigen; sobald wir mit dem Essen fertig waren, begann sie mit lautem, theatralischem Geklapper den Tisch abzuräumen.
    Im folgenden Jahr beschloss ich, dass ich Medizin studieren würde wie mein Großvater. Da ich Gott nicht verstehen konnte, wollte ich wenigstens versuchen, den Menschen zu verstehen; und wenn der Schmerz der Welt mir weiterhin unverständlich blieb, wollte ich mich wenigstens bemühen, ihn zu lindern.

12
    An jenem Tag war auf den höchsten Gipfeln Schnee gefallen.
    Davide hatte noch nie Schnee gesehen: »Schau, da oben die Berge, alles weiß« – ich deutete hinauf. »Das ist Schnee.« »Sie sehen aus, als wären sie mit Puderzucker bestäubte Torten«, fügtest du hinzu.
    Wir fuhren auf der Straße, die nach L’Aquila führt. Den Kopf von einer Seite zur anderen bewegend, betrachtete Davide schweigend die Berge; wie die meisten Erstgeborenen  – und die meisten Jungen – konnte er erst sehr wenige Wörter sagen, obwohl er schon drei Jahre alt war. »Du quasselst zu viel«, provozierte ich dich oft. »Wie soll er den Raum finden, um ein Wort zu sagen, wenn du nie still bist?« »Dir wäre es wohl lieber, dass ich so eine Mumie würde wie du?«
    Diese Sticheleien gehörten zu unserer Familiensprache, es war in ihnen keinerlei Bosheit, keine Bitterkeit; in deiner Welt metaphorischer Bilder verglichst du mich mit einer Mumie – weil ich sehr langsam sprach, dauernd das Bedürfnis spürte zu analysieren, zu schematisieren, vor jeder noch so kleinen Entscheidung das Für und Wider abzuwägen.
    »Das kommt von den Jahreszeiten«, sagte ich, um dich zum Lachen zu bringen. »Du wurdest von der Umarmung der Sonne empfangen, ich vom eisigen Winterwind.« »Das ist wahr«, erwidertest du manchmal, entnervt von meiner Langsamkeit. »Du hast Eis in den Adern, und ich fürchte, dass es nicht einmal mir gelingt, dich zu wärmen.« Ich ahnte hinter deinen Worten eine schmerzliche Traurigkeit, die mich sogar drängte, gesprächig zu werden, bloß um sie zu verjagen. Nichts schmerzte mich mehr als dieser Schatten, der sich plötzlich über deinen Blick senken konnte.
    Am späten Vormittag trafen wir in dem Dörfchen bei L’Aquila ein. Dein Freund Ettore hatte gerade das Haus der Großeltern fertig renoviert. Er stellte uns seiner Frau vor, die du nicht kanntest, und als du entdecktest, dass sie schwanger war, wart ihr sofort ein Herz und eine Seele.
    Davide trippelte gleich in den Garten zu den Katzen mit verschiedenfarbigem Fell, die friedlich in der Sonne schliefen, und während du zu der Frau in die Küche gingst, um dir das Geheimnis der Spaghetti alla chitarra erklären zu lassen, holte ich mit Ettore Holz für den Kamin.
    Beim Mittagessen unterhielten wir uns angeregt über das große – und gemeinsame – Abenteuer, Kinder zu haben; sie wollten alles über Davide wissen, ob er die Nacht zum Tag gemacht hatte, ob er gestillt worden war und wie lange, wie das mit dem Abstillen war; bei der klassischen Frage, welches Wort er zuerst gesagt habe, ›Mama‹ oder ›Papa‹, fingen wir alle zu lachen an.
    »Davide kann nur drei Wörter«, bekanntest du. »Kessel, Stift und Treppe.«
    Das Staunen deiner Freundin war fassungslos: »Gibt es das öfter?«
    »Natürlich!«, beruhigtest du sie. »Nur wegen unserer Manie, im Mittelpunkt zu stehen, glauben wir, unsere Namen seien das Wichtigste. Warum soll man Mama rufen, wenn sie danebensteht? Besser den Namen des Dings da zu lernen, das auf dem Herd brodelt … der Kessel eben.«
    »Ihr wirkt nicht wie ängstliche Eltern«, schloss unsere Gastgeberin.
    »Warum sollten wir das auch sein?«
    Beim Nachtisch kündigtest du an, dass auch Davide bald ein Schwesterchen oder Brüderchen bekommen würde. Zur Feier des Tages holte Ettore eine Flasche Spumante, und wir stießen auf unsere Kinder an.
    Nach dem Essen machten wir einen kurzen Spaziergang über die Wiesen am Haus. Davide ritt auf meinen Schultern.
    »Katze!«, rief er, als wir in den Garten zurückkehrten, und deutete auf eines der kleinen, in einem Beet ausgestreckten Tiere.
    »Da waren es schon vier!«, zolltest du ihm glücklich Beifall.
    Die Stunde der Übergabe nahte. Ettore fuhr das Auto aus dem Schuppen und lud dich ein, eine Rundfahrt mit ihm zu machen.
    »Bist du überzeugt?«, fragte ich dich bei der Rückkehr.
    »Absolut.«
    Du hattest leichte Kopfschmerzen und wolltest vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Rom sein, deshalb

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