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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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während Davide mich mit aufgerissenen Augen ansah, erzählte ich Geschichten von Sirenen, Seesternen, Seepferdchen, sprechenden weisen Schildkröten, als ob es sein Plüschtier wäre, das redete; und wenn der Delfin zuletzt mit einer Verbeugung sagte: »Und auch für heute ist die Geschichte aus«, schüttelte Davide glücklich lächelnd den Kopf, als wollte er sagen: »Nein, nein, sprich weiter.« Dann beugte ich mich über ihn, küsste ihn auf eine Wange, und auf die andere küsste ihn das spitze Maul seines Freundes Delfin.

14
    Die überregionalen Zeitungen veröffentlichten nur eine kurze Notiz, doch die Tageszeitung von Ancona widmete uns mehrere Seiten; ein Berichterstatter schrieb nach seiner Teilnahme an der Beerdigung: ›Der Ehemann, versteinert vor Schmerz …‹ In den folgenden Tagen, während ich ziellos durch die Straßen lief, fielen mir diese Worte wieder ein. Nur jemand, der noch nie einen echten Schmerz empfunden hat, konnte das, was ich empfand, mit einem Stein vergleichen – doch ein Stein ist ja etwas Lebendiges, er kann splittern, zerbrechen, kann die Wärme der Sonne aufnehmen und wieder abgeben. Ich dagegen war in Frost und Schweigen erstarrt. Der Raum, den du in mir eingenommen hattest, war plötzlich leer, und in diese Leere war die Eiseskälte einer endlosen Nacht gedrungen.
    Weiterhin begegnete ich Menschen, die versuchten, mich zu trösten, ihre Worte hallten in meinem Kopf nach wie das Echo in einer Grotte. Nur Mut …ut …ut …ut … Schrecklich …ich …ich … All diese Stimmen brachten mich auf, doch ich besaß nicht die nötige Kraft, um sie auf Abstand zu halten.
    Daher begann ich, mit dem Auto herumzufahren. Ich brach morgens auf und kehrte abends zurück. »Wohin willst du?«, fragte meine Mutter angstvoll jeden Morgen, wenn sie mich weggehen sah.
    »… u …u …u …«
    »Wann kommst du wieder?«
    » …ieder …jeder …ieder …«
    »Mach keine Dummheiten!«, rief sie mir auf der Treppe nach.
    » …eiten …eiten …eiten …«
    Im Auto gelang es mir, mich zu entspannen. Das Metall war mein Gehäuse, niemand konnte herein, niemand konnte sprechen. Ich allein entschied, wann ich die Türe öffnen und schließen wollte. Ich war eine zweischalige Muschel, ein gepanzerter Bauchfüßler – jemand hatte mich verletzt, und ich öffnete mich mit äußerster Vorsicht, genau so weit es zum Atmen, für die vitalen Funktionen nötig war. Mit leerem Blick und leerem Herzen fuhr ich durch die Straßen; der Frost hatte überall Eiskristalle hinterlassen – in den Augen, an den Händen, auf der Zunge, in den Gelenken. Ich fuhr und wusste, dass aus diesen Wunden nie der schillernde Glanz einer Perle hervorleuchten würde. Ich nahm die Autobahn, fuhr bis San Benedetto del Tronto und dann über die Staatsstraße zurück; oder ich nahm die Via Flaminia nach Umbrien, durchquerte die bewaldeten Täler und kehrte auf der Adriaseite zurück. Manchmal fuhr ich auch nach Norden bis ins Podelta, und verirrte mich in den weißen Straßen, die die Kanäle entlangführten. Ab und zu hielt ich an, stieg aus und rauchte eine Zigarette.
    Eines Tages machte ich am Wasserfall von Marmore halt. Genau, als ich dort war, wurde das Wasser – das bis dahin für die Stahlwerke umgeleitet worden war – plötzlich mit schrecklichem Tosen ins Flussbett abgelassen, und ich wurde von einer kalten Wasserdampfwolke eingehüllt. Da kam mir unser Flussspiel wieder in den Sinn. Jetzt waren wir wie dieses Gewässer – ein und derselbe Fluss unter zwei verschiedenen Bedingungen: Ich war das leere Flussbett, und du warst mit deinem freudigen Elan irgendwohin umgeleitet worden; wo du warst, wusste ich nicht, ich wusste jedoch, dass du – im Unterschied zu diesem Wasserfall – nie wieder zurückkehren und in meinem Flussbett schäumen würdest; ohne Wasser würde ich mich bald in eine Art Straße verwandeln, an meinen Rändern würden die Pflanzen nicht mehr üppig sprießen, und das Leben auf dem Grund würde zu einer steinigen Ebene, wo sich, da niemand mehr dort entlangfloss, bald die Brombeeren ansiedeln würden. Und dieses Dornengestrüpp war der einzige Horizont, der vor mir lag.
    Meine Eltern lebten in der Angst, dass ich eurem Schicksal folgen wollte, doch es war eine grundlose Angst, denn nie, nicht einen einzigen Augenblick, hatte ich während meiner ziellosen Fahrten daran gedacht, das Steuer herumzureißen und mich irgendwo herunterzustürzen. Eine solche Tat hätte einen wie

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