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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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verabschiedeten wir uns wenig später.
    Davide wollte mit dir fahren; während du ihn in seiner etwas unförmigen Windjacke hinten im Kindersitz anschnalltest, drehte er sich um, deutete auf mich und sagte: »Papa.«
    »Da waren es schon fünf«, kommentierte ich glücklich.
    Du saßest schon am Steuer. »Ehrlich gesagt, bin ich ein bisschen neidisch …«, flüstertest du mir zu.
    »Dein Neid wird von kurzer Dauer sein«, beruhigte ich dich, »das sechste ist bestimmt ›Mama‹.«
    Ich küsste dich, und wir fuhren los. Ihr vorn, ich hinten, um nicht Gefahr zu laufen, uns zu verlieren, und um dir gleich helfen zu können, falls deine Carolina stehen bleiben sollte.
    In den folgenden Tagen, Monaten und Jahren war jener Tag für mich nichts anderes als ein Körper, der seziert werden musste: Ich hielt das Skalpell in der Hand, schnitt und verwahrte alles, was mir bemerkenswert zu sein schien, mit pedantischer Besessenheit in diversen Kühlfächern.
    Welche Farbe hatten die Kacheln in der Küche? Und waren die Gläser durchsichtig oder farbig? War deines nicht am Rand leicht angeschlagen, oder war es doch meines?
    Und wie viele Katzen schliefen im Garten? Ganz sicher eine rote – die, der Davide nachgelaufen war –, aber auch eine getigerte und eine schwarz-weiße; vielleicht gab es auch noch eine ganz schwarze, die mir entgangen war – vielleicht hatte die die Straße überquert, als du mit Ettore Probe gefahren warst, und du hattest es mir nicht gesagt.
    Hattest du das Rezept für die Spaghetti alla chitarra noch aufgeschrieben oder es dir nur gemerkt?
    Und hatten wir auf unserem Spaziergang etwa nicht einen schwarzen Vogel im Geäst des großen kahlen Nussbaums landen sehen?
    Was war das: ein Rabe, eine Krähe, eine Amsel?
    Und hattest du mich an jenem Morgen vor der Abreise nicht aus dem Bad auf eine astrale Konjunktion hingewiesen? Ich hatte nicht darauf geachtet, weil mich so etwas nicht interessierte. Was hattest du gesagt? War »Quadratur« das richtige Wort oder »Opposition«? Und was bedeutete das?
    Welche Schuhe hattest du an diesem Tag an? Schuhe, die zum Autofahren geeignet waren, oder diese Art Schlappen, die du gewöhnlich trugst? Warum hatte ich es nicht überprüft? »Du bist ein Fanatiker«, sagtest du zu mir, »was soll das groß ausmachen, ein Schuh ist ein Schuh.«
    Um sicher zu sein, dass mir nichts entging, wiederholte ich ständig alles, was wir beim Mittagessen gesprochen hatten: Ich ahmte meine und deine Stimme nach und ließ sie dann nachklingen in der Hoffnung, dass die Stille mir etwas enthüllen werde, das mir entfallen war.
    Irgendwann war im Kamin ein Holzscheit explodiert, und Davide hatte sich erschrocken umgedreht, bereit, loszuweinen, doch du hattest ihn lächelnd beruhigt.
    Warum hat Davide ausgerechnet an dem Tag zwei neue Wörter gesagt?
    Und warum war eines davon ›Papa‹?
    Wäre es dasselbe gewesen, wenn er ›Auto‹ gesagt hätte? Oder wollte er mich etwas fragen mit seinem Lächeln voller kleiner Zähnchen?
    Jahrelang habe ich in diesem Anatomiesaal gewohnt. Ich versuchte zu verstehen, doch je mehr Zeit verging, umso wirrer wurde alles; die Wissenschaft war bloß eine Ausrede; mich an jenen Tag zu klammern war in Wahrheit der einzige Weg, der mir blieb, um zu überleben.
    Es war unser letzter Tag gewesen, und ich hatte ihn gelebt wie jeden anderen – deshalb konnte ich mir nicht erlauben, auch nur die winzigste Einzelheit zu vergessen.
    Alles ging unglaublich schnell.
    Auf dem großen Viadukt schleuderte dein Auto plötzlich nach links, durchbrach die Leitplanke und verschwand, von der Leere verschluckt.
    Wäre ich nicht die Mumie, hätte ich das Einzige getan, was ich hätte tun müssen: das Lenkrad herumreißen und euch in die Tiefe folgen.
    Ich bin aber die Mumie.
    Daher habe ich den Blinker eingeschaltet, bin an den Rand gefahren, bin ausgestiegen, habe über die Brüstung geschaut, und erst als ich ganz unten an der Böschung die Flammen sah, habe ich geschrien:
    »Nein!«

13
    An das Gesicht des ersten Autofahrers, der angehalten hat, erinnere ich mich nicht, doch ich erinnere mich an die Ankunft der Straßenpolizei und an das Gesicht eines Polizisten mit rötlichem Schnauzbart, der mich fixierte: »Litt Ihre Frau an Depressionen? Hatten Sie kürzlich gestritten, gab es Unstimmigkeiten?« Ich erinnere mich, dass ich innerlich nach Worten suchte, aber sosehr ich mich auch bemühte, es war, als irrte ich durch ein Archiv – es gab viele Gänge, viele Regale,

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