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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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auch immer gearteten Willen erfordert, und genau der fehlte mir. Ich war vernichtet. Ich fuhr herum, weil ich nicht stillhalten konnte. Natürlich gingen mir Gedanken durch den Kopf, doch es waren eher Meteore denn Gedanken, Leuchtspuren, die in meinem Hirn auftauchten wie Kometen und die, anstatt über dem Stall von Bethlehem innezuhalten, direkt bis zu dem Viadukt weiterzogen und sich dort in ständiger Bewegung neu erschufen. Dort unten brannte der Feuerball eurer Körper, jener Feuerball, der meine Vergangenheit und meine Zukunft in eine Rauchsäule verwandelt hatte, und der Rauch hatte die unauslotbare Tiefe eines schwarzen Loches – jede Vision, jedes Gefühl verschwand darin, wie von einem gesichtslosen Ungeheuer verschluckt.
    Am Abend zu Hause ging es nicht besser. Meine Mutter wiederholte mit Leidensmiene: »Iss … iss … iss … « Sie kochte meine Lieblingsgerichte aus der Kindheit und sah bekümmert zu, wie sie auf dem Teller erkalteten, während mein Vater, im Sofa versunken, dem Fernseher lauschte.
    In einer Ecke des Wohnzimmers stand noch ein Behälter mit Davides Spielsachen – Bauklötzchen, Buntstifte, das Feuerwehrauto mit Sirene, das er so gern durch die Küche hatte rasen lassen.
    »Man muss sich damit abfinden«, sagte mein Vater schließlich eines Abends. »Irgendwann muss man seinen Frieden mit den Dingen machen.«
    Der Satz traf mich wie ein elektrischer Schlag. Ich sprang auf, trat nach Davides Spielzeug: »Es gibt keinen Frieden! Es gibt keinen Frieden!«, brüllte ich außer mir.
    Als ich erschöpft auf das Sofa sank, nahm mein Vater meine Hand zwischen die seinen.
    »Weine«, sagte er zartfühlend. »Versuch wenigstens zu weinen.«
    Doch meine Augen waren trocken, die Hornhäute knisterten wie Reisig bei einem Brand.
    »Ich glaube, es ist besser, wenn du wieder arbeiten gehst«, sagte er nach einem Monat dieses Lebens zu mir, während wir auf dem Balkon der Ankunft der Adriatica-Fähre aus Durazzo lauschten.
    »Ja, das glaube ich auch«, antwortete ich, während das Schiff mit seinem ockerfarbenen Bug in den Hafen einlief.
    Am Abend vor meiner Abreise hatte meine Mutter, ohne mir Bescheid zu sagen, einen befreundeten Priester zum Essen eingeladen. Er war um die vierzig und nicht einmal unsympathisch, doch ich schwieg trotzdem die ganze Zeit – sie unterhielten sich über dieses und jenes, und ich betrachtete sie, ohne zuzuhören.
    »Warum macht ihr nicht einen Spaziergang, ihr zwei?«, schlug meine Mutter nach dem Espresso vor. Sie sagte es, als wäre ich ein verschüchterter Bub mit seiner ersten Liebe.
    »Eine gute Idee«, lächelte Don Marco. »Das fördert die Verdauung.«
    Willenlos nahm ich meine Jacke und folgte ihm. Die Luft draußen war kalt, das Meer kräuselte sich um viele winzige Wellen, vom anderen Ufer der Adria kamen die letzten Böen der nun schon müden Bora. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander, die Hände in den Taschen. »Ihre Mutter möchte, dass ich mit Ihnen spreche«, begann der Pfarrer, »aber mir wäre es lieber, wenn Sie zuerst sprächen.«
    »Ich habe nichts zu sagen«, erwiderte ich, mir eine Zigarette anzündend. »Oder eines vielleicht doch. Sie hat sich nicht umgebracht.«
    »Was gibt Ihnen diese Sicherheit?«
    »Sie liebte das Leben. Sie war das Leben, und ein neues Leben wuchs in ihr heran.«
    Don Marco seufzte. »Wenn es so ist, wird alles noch schwerer.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Dann handelt es sich nicht mehr um Willen, sondern um die Blindheit des Schicksals. An einem bestimmten Punkt saust das Beil herunter und …«
    »Und trifft mitten hinein …«, schloss ich.
    »Und es stellt sich keine Fragen, blickt niemandem ins Gesicht. Es wäre schön, es dirigieren zu können, sich vorzumachen, dass es eine Auswahl gäbe – es saust herab und schneidet den Bösewichtern den Lebensfaden ab, den Müden, den Kranken … O nein, es saust herab und zerstört die Gerechten, die jungen Menschen, die Starken, die, die ins Leben verliebt sind. Dagegen kann man nur rebellieren.«
    »Ich dachte, das Wort ›Rebellion‹ würde nicht zu einem Priester passen.«
    »Priester sind Menschen, und Rebellion ist ein Wort, das zu den Menschen passt. Es ist unmöglich, unschuldigen Schmerz mitanzusehen und gleichgültig zu bleiben.«
    »Und wie kann ich denn jetzt noch rebellieren?«, fragte ich mutlos. »Es ist schon alles geschehen.«
    »Drängen Sie Ihn, lassen Sie Ihm keine Ruhe, fordern Sie eine Antwort.«
    »Selbst wenn ich eine bekäme,

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