Mein Herz ruft deinen Namen
ich als Erstes Enttäuschung. Vielleicht jedoch, redete ich mir vertrauensvoll ein, dauert es ein bisschen, bis sie wirkt, vielleicht merke ich ja, dass alles anders ist, sobald ich hinausgehe oder heute Nacht oder morgen früh. Doch auch während des Essens geschah nichts. Ich kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an, aber die Dinge blieben, was sie waren – die Tortellini auf dem Teller, die Armbanduhr, der Füllfederhalter und das Messbuch mit dem perlmuttfarbenen Einband, die ich geschenkt bekommen hatte, lagen vor mir in ihrer platten, ausdruckslosen Normalität.
Nur auf dem Heimweg, während ich wie früher, als ich noch klein war, meinen beiden Eltern je eine Hand gab, hatte ich eine Sekunde den Eindruck, zu dem gewohnten Tageslicht sei noch ein weiteres, stärkeres, leuchtenderes, wärmeres hinzugekommen. In jenem Licht war das Gesicht meines Vaters das schönste der Welt, die Lippen meiner Mutter waren entspannt, und ihre Augen lachten wie damals, als sie ein junges Mädchen war. Ich fühlte eine außerordentliche Kraft in mir, ich war ein Riese. Und dieser Riese fürchtete sich vor nichts.
Wenn ich jetzt daran zurückdenke, wird mir klar, dass ich vielleicht in jenem Augenblick unbewusst ganz kurz mit der Welt in Berührung kam, die dir so vertraut war. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich dasselbe Licht gesehen, das du sahst, doch während du weiter darauf zugingst, hatte ich mich zurückgezogen und mich für das Grau des Alltags entschieden.
Solange ich die Grundschule besuchte, ging ich regelmäßig mit meiner Mutter in die Kirche; jeden Sonntag besuchten wir um elf Uhr die Messe, und am Ende holte uns mein Vater mit einem kleinen Papptablett voller Törtchen für den Nachtisch ab.
Anfangs befolgte ich dieses Ritual vertrauensvoll, doch nach und nach begann mein Vertrauen zu bröckeln, abzustumpfen und sich ins Gegenteil zu verkehren. Ich hörte ständig von Liebe und Güte sprechen, konnte aber diese Liebe und Güte in den Menschen, die mich umgaben, nicht erkennen. Ich hörte von Freude sprechen, sah aber um mich herum nur melancholische und traurige Gesichter.
Mit der Zeit begriff ich, dass der sonntägliche Kirchgang für viele – allen voran meine Mutter – eine reine Konvention war und dass die schönen Worte, denen sie lauschten, nicht den geringsten Einfluss auf ihr Leben hatten. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, hatte Jesus gesagt, doch sie schienen tatsächlich nur von Brot zu leben. Von Brot und Törtchen, von schönen Kleidern und Geschwätz, von kleinlichem Neid und kleinlicher Rache.
In meinem Herzen sah es anders aus, mein Herz suchte etwas anderes. Daher begann ich, als ich auf die Mittelschule gekommen war, zu rebellieren.
Als Erstes mied ich den Beichtstuhl, jenes unheimliche Gehäuse, das mich von Anfang an zur Heuchelei gezwungen hatte, weil ich, um irgendetwas zu beichten, Sünden erfinden musste, die ich nicht begangen hatte. Dann besuchte ich weniger häufig die Messe – einmal hatte ich zu viele Hausaufgaben, am nächsten Sonntag einen Geländelauf, am übernächsten heftige Kopfschmerzen. Nach einer Weile schmollte meine Mutter mit mir, eine ihrer Spezialitäten. »Du hast Jesus nicht mehr lieb«, flüsterte sie eines Sonntags mit Opfermiene, während sie das übliche Huhn zerteilte.
»Ganz im Gegenteil, ich komme nicht mehr mit, weil ich ihn lieb habe.«
»Lästere nicht.«
Mein Vater hob die Augen vom Teller, um mich zu verteidigen. »Er lästert nicht. Er legt seinen Standpunkt dar.«
Also sprach ich, während der Mund meiner Mutter immer verkniffener wurde, auf Aufforderung meines Vaters lang und breit über mein Unbehagen, darüber, dass ich, obwohl dauernd von Liebe und Freude die Rede war, diese Freude und diese Liebe nirgends sah, nicht einmal auf ihren Gesichtern, in ihren Gesten; ich wollte nicht so weit kommen, mich gut zu fühlen, nur weil ich einem Armen eine Münze zugesteckt oder Stanniolpapier für die Kinder gesammelt hatte, die in Afrika verhungern.
»Welchen Sinn hat eine gute Tat?«, fuhr ich fort. »Was ist dann mit allen meinen anderen Taten? Entweder ich bin immer gut – und lebe das Gute – oder gar nicht. Entweder ist alles Liebe, oder nichts ist Liebe. Liebe auf Kommando, stückweise Liebe kann es nicht geben. Sie kann nicht sein wie ein Kleidungsstück, das ich anziehe, wann es mir passt.«
Während ich sprach, fühlte ich, wie meine Wangen glühten, zum ersten Mal redete ich wie ein Erwachsener. Mein Vater
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