Mein Herz springt (German Edition)
versuche, meine Gedanken zu sortieren. Wo fing alles an?
Ich war damals als Anästhesistin in der kardiologischen Abteilung des Kölner Uniklinikums beschäftigt. Mein Leben fühlte sich gut an: Ich hatte einen gut bezahlten Job, nette Kollegen, einen tollen Ehemann, eine bezaubernde kleine Tochter und eine gemütliche Altbauwohnung etwa fünf Minuten fußläufig von meinem Arbeitsplatz entfernt. Mein Mann Kalle hatte sich erfolgreich als Rechtsanwalt selbstständig gemacht. Er arbeitete viel – manchmal ganze Nächte hindurch. Der Erfolg hatte seinen Preis, aber auch viel Annehmliches: Wir gingen schick essen, bildeten uns kulturell und bereisten die Welt. Im Sommer zog es uns in den sonnigen Süden, im Winter in die alpine Märchenlandschaft Österreichs. Doch bei all dem nach außen hin anmutenden Luxus blieben wir einer Gewohnheit treu: Kalle und ich liebten ausgiebige Spaziergänge mit der kleinen Frieda und kuschelten uns für unser Leben gerne abends bei einem Glas Wein auf dem Sofa aneinander. Wir konnten die Stille der Zweisamkeit wie kaum etwas anderes genießen. Kalle und ich – das fühlte sich perfekt und einzigartig an.
Mein Beruf als Ärztin war für mich ebenso essenziell wie mein Leben mit Kalle und Frieda. Die beiden scheinbaren Gegensätze – berufliche Selbstverwirklichung und familiäres Glück – potenzierten sich in meiner Persönlichkeit. Im Job tankte ich Energie für mein Privatleben und die Familie gab mir die nötige Motivation für meine Karriere. Natürlich sah der Alltag nicht immer nur himmelhochjauchzend aus. Häufig stieß ich an die Grenze meiner Belastbarkeit und wurde für mein Umfeld zu einem lästigen Nervenbündel. Aber in Summe betrachtet zeichnete mich diese Doppelbelastung als Mensch, vielmehr als Frau aus. Ich verkörperte Lebendigkeit und Souveränität gegenüber dem Leben. Komplimente oder positives Feedback dazu bekam ich nur selten. Ich entnahm das dem Strahlen der Augen, mit dem mir vertraute sowie fremde Menschen gegenübertraten. Sie hatten mich gerne in ihrer Gesellschaft. Das machte mich stark.
Nach Friedas Geburt, die mit vier Ehejahren und in Summe sieben Beziehungsjahren verbunden war, fühlte ich mich rundum glücklich. Ich glaubte, alles erreicht zu haben. Ich freute mich auf die nächste Lebensphase, die etwas weniger ambitioniert werden sollte: beruflich noch die Sprosse zur Oberärztin erklimmen, vielleicht privat noch ein zweites Kind zur Welt bringen. Das alles hätte mein Leben vielleicht noch um eine ganz kleine Prise Glück bereichert. Aber mein Glück reichte mir – so, wie es war.
Ich war also auf der Suche nach nichts und habe dabei etwas Unerwartetes gefunden. Es passierte an einem ganz normalen Arbeitstag mitten im Monat Mai:
Ich befinde mich zusammen mit dem Kollegium bei der morgendlichen Patienten-Visite. Alles ist Routine. Es gibt eine kleine Abweichung von der üblichen Konstellation der Kollegenrunde: Wir haben Prof. Dr. med. Hanno Clausen, einenrenommierten Herzspezialisten aus Hamburg, mit an Bord. Für den Chefarzt, aber auch den Oberarzt der kardiologischen Abteilung des Kölner Uniklinikums ist das ein bedeutender Besuch. Entsprechend ausführlich und bis ins kleinste Detail vorbereitet, gehen sie die Akten der Patienten durch – während ich mich eher als Statistin einer Theaterinszenierung fühle. Ich nicke die Beiträge der Kollegen höflich zustimmend ab und lächele den Patienten aufmunternd zu. Mehr nicht. Es geht nicht um mich. Also verhalte ich mich unauffällig.
Clausen ist über die deutschen Grenzen hinaus für seine Expertise im Bereich der kardiovaskulären Medizin bekannt. Er ist ein großer, hagerer Typ. Sein Interesse an den Patienten würde ich als oberflächlich, das an der Meinung seiner Kollegen als obsolet bezeichnen. Das macht ihn auf den ersten Blick nicht gerade zu einem Sympathieträger.
***
Als Clausen gerade mit den Kollegen auf das Kardiogramm eines Patienten nach Herzinfarkt blickt, male ich mir aus, wie das Privatleben einer solchen medizinischen Koryphäe aussehen könnte. Da Clausen eher den Eindruck eines introvertierten Forschers macht, lebt er keinesfalls in einer festen Beziehung. Sicherlich hat er eine Bedienstete, die sich um seine Wohnung in einem spießigen Hamburger Stadtviertel in exklusiver Lage kümmert. In der Freizeit pokert er mit seinen Akademikerfreunden oder spielt Schach. Bestimmt fährt er einen altertümlichen Volvo, der für mich ein Intellektuellenfahrzeug darstellt
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