Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
keine Ahnung, warum das Buch sich nicht zurückgesetzt hat. Es macht sonst nie solche Fehler; bei jedem Umblättern sind wir an Ort und Stelle, fertig kostümiert und im Kreis der jeweiligen Mitspieler. Was weiß ich, vielleicht ist das ja schon einmal passiert und ich habe es nicht bemerkt. Aber wenn ich es sehe, dann könnte es auch noch jemand anderer sehen, das ist doch wohl klar.
Zum Beispiel ein Leser.
Delilah.
Tief Luft holen, Oliver , beruhige ich mich. »Frump«, zische ich.
Er knurrt, aber ich verstehe ihn deutlich: Nicht jetzt.
Na schön, Oliver , sage ich mir. Das ist keine Katastrophe. Was die Menschen an einem Märchen interessiert, ist das Happy End, sie suchen nicht nach einem kaum sichtbaren Schachbrett, das auf der letzten Seite in den Sand geritzt ist . Trotzdem versuche ich Seraphima näher an mich zu ziehen, um das Schachbrett unter dem bauschigen Rock ihres Kleides zu verstecken. Seraphima missversteht meine Geste jedoch und denkt, dass ich ihr näher sein möchte. Sie hebt das Kinn und schließt die Augen, weil sie darauf wartet, dass ich sie küsse.
Alle warten. Die Trolle, die Feen, die Meerjungfrauen. Die Piraten, die ihre Ankerleinen fest um den Drachen Pyro gewickelt haben, um ihn in Schach zu halten.
Auch die Leserin wartet. Und wenn ich ihr gebe, was sie will, wird sie das Buch zuschlagen, und das war’s dann.
Na schön .
Ich beuge mich vor und gebe Seraphima einen Kuss, vergrabe meine Finger in ihrem Haar und ziehe ihren Körper an mich. Sie schmilzt unter meiner Berührung dahin und ich schließe sie fest in die Arme. Auch wenn sie nicht mein Typ ist, gibt es schließlich keinen Grund, warum ich bei der Arbeit keinen Spaß haben sollte.
» Delilah !«
Als sich das Mädchen tiefer über uns beugt, verdunkelt sich der Himmel. »Wie merkwürdig«, murmelt sie.
Ihr Finger senkt sich auf uns herab, drückt auf die Umgrenzung unserer Welt, verbiegt die Kulisse, in der wir stehen. Ich halte die Luft an, weil ich denke, dass sie mich fangen will. Stattdessen berührt sie die Stelle, wo das Schachbrett in den Sand geritzt ist.
»Das«, sagt sie, »war hier noch nie.«
D elilah
Ich bin sonderbar.
Das sagen alle. Wahrscheinlich kommt das daher, weil ich es mir lieber mit einem Buch gemütlich mache, anstatt mich wie andere Fünfzehnjährige über das tollste Lipgloss und den heißesten Filmstar zu unterhalten. Ganz im Ernst – seid ihr in letzter Zeit mal in einer Highschool gewesen? Warum sollte sich jemand, der seine fünf Sinne beisammenhat, mit Hockeyspielern abgeben, die sich wie Neandertaler benehmen? Oder vor den boshaften Mädchen, die vor den Spinden herumlungern wie die Modepolizei und Kommentare zu meinen ausgebleichten Chucks und Secondhand-Pullis loslassen, Spießruten laufen? Nein, danke; da tue ich doch viel lieber so, als wäre ich woanders, und genau das geschieht jedes Mal, wenn ich ein Buch aufschlage.
Meine Mom macht sich Sorgen um mich, weil ich eine Einzelgängerin bin. Aber das stimmt nicht ganz. Meine beste Freundin Jules versteht mich total. Meine Mom ist selbst schuld, wenn sie über die Sicherheitsnadeln in Jules’ Ohrläppchen und ihren pinkfarbenen Irokesenschnitt nicht hinwegsehen kann. Das Coole daran ist doch, dass ich neben Jules überhaupt nicht auffalle.
Jules versteht meine Versessenheit auf Bücher. Ihre Schwäche sind trashige Horrorfilme. Sie kennt jede einzelne Dialogzeile aus Der Blob . Die beliebten Mädchen an unserer Schule nennt sie nur die »Körperfresser«.
Jules und ich gehören nicht zu den Beliebten. Ich jedenfalls bin meilenweit davon entfernt, beliebt zu sein oder mich auch nur im Dunstkreis der Beliebten aufhalten zu können. Letztes Jahr, als wir in der Turnhalle Softball spielten, habe ich Allie McAndrew nämlich mit dem Schläger die linke Kniescheibe zertrümmert. Allie ist Chef-Cheerleaderin und konnte sechs Wochen lang nicht auf die Spitze der Pyramide, außerdem musste sie die Krone, mit der sie beim Abschlussball zur Ballkönigin gekrönt wurde, auf Krücken entgegennehmen.
Das Schlimmste war, dass ich selbst überhaupt nicht auf den Ball gehen konnte. Alle, denen ich nicht schon zuvor verhasst gewesen war, hatten plötzlich einen Grund, mich zu schneiden oder zu verspotten oder im Flur gegen die Spinde zu schubsen. Bis auf Jules, die erst eine Woche nach dem Vorfall hierher zog. Als ich ihr schilderte, warum ich geächtet wurde, lachte sie. »Schade, dass du ihr nicht beide Kniescheiben zertrümmert hast«,
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