Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
stopfe es in meinen Rucksack, dann flitze ich nach unten, um mein Frühstück hinunterzuschlingen, bevor sie mich in die Schule fährt.
Meine Mutter wäscht bereits ihre Kaffeetasse aus, als ich mir eine Scheibe Toast schnappe und mit Butter bestreiche. »Mom«, frage ich sie, »hast du jemals ein Buch gelesen und es hat sich … geändert?«
Sie blickt mich über die Schulter an. »Na klar. Als ich Vom Winde verweht zum ersten Mal gelesen habe und Rhett Scarlett am Ende verlässt, war ich fünfzehn, und damals hielt ich unerwiderte Liebe für etwas Wildromantisches. Als ich es letzten Sommer das zweite Mal gelesen habe, dachte ich, dass Scarlett dumm und Rhett ein selbstsüchtiges Schwein ist.«
»So meine ich das nicht … Da hast ja du dich verändert, nicht das Buch.« Ich beiße ein Stück von meinem Toast ab und spüle es mit Orangensaft hinunter. »Stell dir vor, du hast eine Geschichte schon hundertmal gelesen und sie spielt immer auf einem Schiff. Und eines Tages liest du sie, und diesmal ist der Wilde Westen Schauplatz der Handlung.«
»Das ist albern«, entgegnet meine Mutter. »Bücher verändern sich nicht vor deinen Augen.«
»Meines schon«, widerspreche ich.
Sie dreht sich um und sieht mich an, den Kopf schief gelegt, als wollte sie herausfinden, ob ich lüge oder verrückt geworden bin oder beides. »Du musst mehr schlafen, Delilah«, befindet sie.
»Mom, ich meine es ernst …«
»Du hast einfach etwas entdeckt, was du bisher übersehen hattest«, meint meine Mutter und schlüpft in ihre Jacke. »Fahren wir.«
Aber ich habe nichts übersehen. Das weiß ich.
Den ganzen Weg zur Schule liegt der Rucksack auf meinem Schoß. Mom und ich reden über Belanglosigkeiten – um welche Zeit sie von der Arbeit heimkommt; ob ich gut genug auf meine Mathearbeit vorbereitet bin; ob es schneien wird – und dabei muss ich die ganze Zeit an das feine Schachbrettmuster im Sand auf der letzten Seite des Märchens denken.
Mom hält vor der Schule. »Einen schönen Tag«, wünscht sie mir, und ich küsse sie zum Abschied. Ich haste an einem Kind mit Kopfhörern vorbei und an den beliebten Mädchen, die immer in einer Traube zusammenhängen. (Ehrlich, sieht man die eigentlich auch mal einzeln ?)
Brianna und Angelo, das It-Pärchen der Schule, genannt BrAngelo, stehen in inniger Umarmung vor meinem Spind.
»Ich werde dich vermissen«, haucht Brianna.
»Ich werde dich auch vermissen, Baby«, nuschelt Angelo.
Du meine Güte. Sie gehen ja nicht auf Weltreise. Sondern nur in die erste Stunde.
Mir fällt erst auf, dass ich das nicht nur gedacht, sondern laut gesagt habe, als mich beide anstarren. »Kümmer dich um deinen eigenen Kram«, ätzt Brianna.
Angelo lacht. »Oder such dir selber einen Freund.«
Arm in Arm ziehen sie ab, jeweils eine Hand in der Gesäßtasche des anderen versenkt.
Das Schlimmste daran ist: Es stimmt. Ich wüsste nicht mal, was wahre Liebe ist, wenn man mich mit der Nase darauf stoßen würde. Angesichts der romantischen Erfahrungen meiner Mutter kann mir das ziemlich egal sein. Trotzdem, etwas in mir wüsste gerne, wie es ist, wenn man für jemanden der wichtigste Mensch auf der Welt ist; wenn man das Gefühl hat, ohne den anderen nicht vollständig zu sein.
An dem Metallspind neben meinem wummert es, und als ich aufblicke, sehe ich Jules, die mit der Hand darauf schlägt, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. »He«, sagt Jules. »Erde an Delilah?« Heute trägt sie einen schwarzen Schleier und einen Minirock über Leggins, die offenbar mit einer Rasierklinge bearbeitet worden sind. Sie ist ausstaffiert, als wollte sie eine Leiche heiraten. »Wo warst du denn gestern Abend?«, fragt sie. »Ich habe dir zig SMS geschickt.«
Ich zögere. Bisher habe ich meine Märchenleidenschaft vor Jules verborgen, aber wenn mir überhaupt jemand abkauft, dass sich ein Buch vor meinen Augen verändert, dann meine beste Freundin.
»Tut mir leid«, sage ich. »Ich bin früh ins Bett gegangen.«
»Tja, die SMS drehten sich alle um Soja-Boy.«
Ich erröte. Als ich das letzte Mal bei ihr übernachtet habe, habe ich ihr um drei Uhr morgens gestanden, dass Zach aus dem Biokurs das Zeug zu meinem künftigen Freund haben könnte.
»Ich habe gehört, dass er letztes Wochenende Mallory Wegman abgeschleppt hat.«
Mallory Wegman hat schon mit so vielen Jungs aus meiner Klasse was gehabt, dass wir sie nur noch »die Abschlepperin« nennen. Ich lasse diese Neuigkeit ebenso sacken wie die Tatsache, dass
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