Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Schiffsunglücken ins Meer gespült wurde. Dieses Gerümpel – anderer Leute Müll – verwendet er dazu, sich aus den Fängen eben jenes feuerspeienden Drachen zu befreien, der seinen Vater getötet hat. Er ist kein typischer Märchenprinz, sondern fällt eher aus dem Rahmen, so ähnlich wie ich. Er ist die Art Junge, dem es nichts ausmachen würde, bei einer Verabredung einfach nur nebeneinanderzusitzen und in einem Buch zu lesen. Außerdem kann er küssen, im Gegensatz zu Leonard Uberhardt, der mich in der siebten Klasse hinter dem Klettergerüst schier aufgefressen hat.
In der ersten Woche las ich das Buch so oft, dass ich den Text auswendig kannte und genau wusste, auf welchen Seiten Bilder waren. Ich träumte, von Rapscullio verfolgt oder von Kapitän Crabbe gezwungen zu werden, über die Planke zu gehen. Nach einer Woche musste ich das Buch zurückgeben, denn so ist es an unserer Schule üblich. Dann musste ich warten, bis es am Tag darauf wieder im Regal stand, damit andere die Gelegenheit hatten, es zu lesen. Aber welcher andere Neuntklässler interessierte sich schon für Märchen? Das Buch stand immer für mich bereit. Und so konnte ich es wieder ausleihen und damit meinen Status als schulbekannte Loserin zementieren.
Meine Mutter machte sich Sorgen. Warum war ein Mädchen wie ich, das locker tausendseitige Erwachsenenromane lesen konnte, so vernarrt in ein Kinderbuch?
Ich kannte die Antwort darauf, aber verraten hätte ich sie um keinen Preis.
Prinz Oliver verstand mich besser als sonst jemand auf der Welt.
Zugegeben, ich hatte ihn nie getroffen. Und zugegeben, er war eine erfundene Figur. Aber er war immer das, was man gerade brauchte, verwegener Held, wortgewandter Friedensstifter oder geschickter Entfesselungskünstler. Andererseits existierte Prinz Oliver nur auf dem Papier und im Kopf irgendeiner Autorin. Er wusste nicht, wie es war, wenn man wie ich von der Cheerleader-Mannschaft in einen Spind gesperrt wurde und dort drinbleiben musste, bis der Hausmeister einen schreien hörte.
Heute beim Aufwachen starre ich an die Decke und beschließe, dass alles anders werden wird. Zuallererst werde ich das Buch in die Schulbücherei zurückbringen. Dann werde ich in meinem Englischheft notieren, dass ich als außerschulische Lektüre Die Tribute von Panem gelesen habe (wie 98 Prozent der neunten Klasse) und ich werde erläutern, warum ich für Peeta bin und nicht für Gale. Ich werde Jules vorschlagen, dieses Wochenende in die lange Rocky-Horror-Picture-Show- Nacht zu gehen. Und in Bio werde ich endlich meinen Mut zusammennehmen und mit Zach reden, meinem vegan lebenden Laborpartner, der darauf besteht, die Venusfliegenfalle der Klasse mit Tofukrümeln zu füttern und wahrscheinlich noch vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag die Wale retten wird.
Ja, ab heute wird alles anders.
Ich stehe auf, dusche und ziehe mich an, aber drüben auf dem Nachttisch lockt das Märchenbuch, das ich vor dem Zubettgehen dort hingelegt habe. So muss sich ein Süchtiger fühlen , denke ich und versuche den Impuls zu unterdrücken, es schnell noch ein letztes Mal zu lesen. Es juckt mir in den Fingern, danach zu greifen, und schließlich schnappe ich es mir mit einem resignierten Seufzer, schlage es auf und verschlinge es gierig. Aber dieses Mal scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Es ist wie ein Stechen zwischen den Augenbrauen, ein Knoten in meinen Hirnwindungen. Stirnrunzelnd überfliege ich den Dialog. Alles wie immer. Dann werfe ich einen Blick auf die Illustration: Der Prinz sitzt auf einem Thron, sein Hund wartet neben ihm.
»Delilah«, ruft meine Mutter, »ich sage es dir jetzt schon zum dritten Mal … Wir werden zu spät kommen!«
Mit zusammengekniffenen Augen starre ich auf die Seite. Irgendetwas ist anders als sonst, aber was bloß? »Lass mich noch schnell zu Ende …«
»Du hast dieses Buch doch schon tausend Mal gelesen und weißt, wie es ausgeht. Mit jetzt meine ich jetzt !«
»Ich komme«, sage ich und blättere das Buch bis zur letzten Seite durch. Als ich es sehe, kann ich nicht glauben, dass es mir nicht schon früher aufgefallen ist. Gleich links neben Prinzessin Seraphimas glitzernder Robe ist ein Gitter in den Sand gezeichnet. Sieht aus wie eine Bingotabelle. Oder ein Schachbrett.
»Delilah!«
»Wie merkwürdig«, sage ich leise. »Das war hier noch nie.«
» DELILAH EVE !«
Wenn meine Mutter mich bei meinem zweiten Vornamen ruft, ist sie wirklich sauer. Ich schlage das Buch zu und
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