Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Ausdruck dafür, um gute Nacht zu sagen, und zwar auch in Räumen, in denen weit und breit kein Floh zu sehen ist. Und ich kenne inzwischen Dinge aus der Anderswelt, die es bei uns nicht gibt: Fernsehen (das mögen Eltern nicht so gern wie Bücher); Happy Meals (offenbar machen nicht alle Mahlzeiten glücklich, nur diejenigen aus einer Papiertüte mit einem kleinen Spielzeug); und duschen (das macht man vor dem Zubettgehen und man wird ganz nass davon).
»Lass mich noch zu Ende lesen«, sagt das Mädchen.
»Du hast dieses Buch doch schon tausend Mal gelesen und weißt, wie es ausgeht. Mit jetzt meine ich jetzt !«
Ich habe bereits mehrmals mitbekommen, wie sich diese Leserin mit der älteren Frau unterhalten hat. Ihren Gesprächen nach zu schließen, muss es ihre Mutter sein. Sie ermahnt Delilah ständig, das Buch wegzulegen und nach draußen zu gehen. Einen Spaziergang zu machen und frische Luft zu schnappen. Eine Freundin anzurufen (keine Ahnung, was sie damit meint) und ins Kino zu gehen (was immer das ist). Jedes Mal warte ich darauf, dass sie die Anordnung ihrer Mutter befolgt, meistens jedoch findet sie eine Ausrede. Und manchmal geht sie zwar nach draußen, liest jedoch dort weiter. Ich kann euch nicht sagen, wie frustrierend das für mich ist. Ich versauere hier in diesem Buch und wünschte nichts sehnlicher, als zu entkommen, und sie kann sich nicht von der Geschichte losreißen.
Wenn ich mit dieser Delilah sprechen könnte, würde ich sie fragen, warum sie auch nur eine Sekunde ihrer Welt gegen die Welt eintauscht, in der ich festsitze.
Aber ich habe bereits probiert, laut mit anderen Lesern zu sprechen. Glaubt mir, das war das Erste, was ich versucht habe, seit mich diese Träume vom Leben in der Anderswelt verfolgen. Wenn ich die Menschen, die das Buch in der Hand halten, nur dazu bringen könnte, mich wahrzunehmen, dann hätte ich vielleicht eine Chance zu entkommen. Diese Menschen sehen mich jedoch nur, wenn sich die Handlung abspielt, und dann muss ich mich ja an den Text halten. Selbst wenn ich beispielsweise sagen will: »Bitte, hör mir zu!«, kommt stattdessen aus meinem Mund: »Ich bin ausgezogen, eine Prinzessin zu retten!«, wie bei einer Marionette. Ich würde alles dafür tun, damit mich ein Leser als der sehen könnte, der ich bin, und nicht als der, dessen Rolle ich spiele. Ich würde mir die Seele aus dem Leib schreien. Ich würde im Kreis herum laufen. Mich in eine lebende Fackel verwandeln. Alles, nur damit man mich sieht. Könnt ihr euch vorstellen, wie es wäre, wenn ihr wüsstet, dass euer Leben nur eine endlose Abfolge von Tagen ist, einer wie der andere, dass ihr in einer Zeitschleife gefangen seid? Als Prinz Oliver wurde mir vielleicht das Geschenk des Lebens verliehen … aber ich habe nie eine Chance bekommen, es wirklich zu leben .
»Ich komme«, sagt Delilah über die Schulter, und ich stoße seufzend den Atem aus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich ihn angehalten hatte. Der Gedanke, nicht schon wieder dieselben Szenen durchexerzieren zu müssen, ist eine wahre Wohltat.
Als das Buch sich zu schließen beginnt, erfasst uns ein Taumel, daran haben wir uns schon gewöhnt. Wir klammern uns an irgendetwas – Kronleuchter, Tischbeine, zur Not sogar an die herabhängenden Schleifen von Buchstaben wie g oder y – , bis die Seiten ganz geschlossen sind.
»Tja«, sage ich und lasse die Gardine los, an der ich mich festgehalten habe. »Wir sind wohl noch mal davongekommen.«
Kaum habe ich den Satz beendet, überschlage ich mich schon wieder und purzle durch die Seiten, denn das Buch wird weiter durchgeblättert. Kurz vor Schluss der Geschichte öffnet sich unsere Welt wieder. Wie durch Zauberhand befinde ich mich plötzlich am Ewigkeitsstrand, und neben mir steht Seraphima, funkelnd und glitzernd in ihrem schimmernden Kleid. Frump trägt ein silbernes Band um den Hals, an dem ein Ehering befestigt ist. Die Trolle halten den Hochzeitsbaldachin; die Kobolde haben Seidenbänder gesponnen, die sich um sie wickeln und in der Meeresbrise flattern. Die Meerjungfrauen versammeln sich im seichten Wasser und sehen verbittert zu, wie wir vermählt werden.
Ich blicke zu Boden und Panik ergreift mich.
Das Schachbrett. Es ist immer noch da. Die Feen-Schachfiguren natürlich nicht, aber die Quadrate, die ich mit einem Stock in den Sand gezeichnet habe – der Beweis dafür, dass das Buch ein Eigenleben hat, wenn niemand es liest – sind immer noch am Strand zu sehen.
Ich habe
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