Mein ist dein Herz
vergießt Jane nicht eine Träne. Sie spricht nicht darüber, was passiert ist und macht auch sonst nichts, woraus ich auf ihre innere Welt schließen könnte.
Mittlerweile habe ich sogar ein bisschen Angst vor dem ersten Gespräch und versuche mich für den Vulkanausbruch zu wappnen. Denn genau das wird es sein: Eine Gefühlsflut, die über uns zusammenschlägt und unser beider Tränendrüsen alles abverlangt.
Kapitel 40
S tille! Wie hört sich Stille an?
Ich weiß es nicht mehr! Hinter meiner Stirn pocht seit Tagen ein lautes Dröhnen.
Oder sind es bereits Wochen? Vielleicht sogar Monate?
Auch so eine Sache, auf die ich keine Antwort weiß. Denn ich müsste mich ja konzentrieren, um nach einer möglichen Antwort zu suchen. Und um mich zu konzentrieren, meine eigenen Gedanken steuern. Ich aber habe seit einer geraumen Zeit keine Ahnung, wie man das macht.
Natürlich gibt es da hin und wieder das Gefühl der Reue, sobald Seans sorgenerfülltes Gesicht vor mir auftaucht. Allerdings kann ich den Weg zu einem normalen Dasein, bei dem man sich mit seinen Emotionen auseinandersetzt, im Dickicht meiner Empfindungen einfach nicht mehr ausmachen. Um der Wahrheit Ehre zu geben, habe ich mittlerweile Angst ihn zu entdecken, geschweige denn, ihm zu folgen. Am meisten fürchte ich mich vor den Fragen, die ich dann stellen werde. Wie zum Beispiel die: Warum schauen mich alle immerzu so komisch an?
Nein! Nein, ich will nicht daran denken. Will nicht wissen, was diese Leere zu bedeuten hat, die mich scheinbar vollkommen in Besitz nimmt. Auch interessiert es mich nicht länger, warum jeder Blick in meine Richtung das Chaos in meinem Kopf verstärkt.
Alles scheint an Ernsthaftigkeit gewonnen und an Leichtigkeit verloren zu haben und ist jetzt im Gesamten einfach unerträglich. Da gibt es irgendeine Stimme, die zu mir vordringen will und dabei zuweilen so laut wird, dass es mir so vorkommt, als würde ein Düsenjet in zehn Meter Entfernung landen. Nur dass es nicht seine Turbinen sind, die ich als ein Dröhnen wahrnehme, sondern eben die Worte, welche diese penetrante Wahrheitsbringerin an mich richtet.
Du bist schuld! , lautet ihre Botschaft.
Ich will ihr gerade entgehen, indem ich sämtliche Gedanken auf den trüben Himmel hinter dem Fenster richte, als ein anderer Klang dazukommt, das Surren zunächst übertönt, dann aber alles andere ausschaltet. Abgesehen von dieser Melodie herrscht endlich die von mir langersehnte Stille.
Das überrascht mich dermaßen, dass ich mich mit einem erleichterten Lächeln aufrichte und in die Richtung schaue, aus der meine Erlösung herkommt. Zu Sean.
Er sitzt auf dem Bettrand, blickt ins Nichts und spielt gedankenverloren auf seiner Gitarre. Und es ist kein x-beliebiges Lied, sondern das eigens von mir Komponierte ...
Mir fällt dabei auf, dass er eine Note nicht ganz trifft. Also stehe ich auf, umrunde das Bett und verlege seine im Nu erstarrten Finger auf die richtige Saite, während ich vor ihm in die Hocke gehe.
»In E-Moll!«, begründe ich meine Tat. »Du hast C-Dur gespielt ...«
»Jane ...«, haucht er leise.
»Probier es mit E-Moll«, fordere ich ihn meiner Angst wegen auf, dass das Dröhnen wiederkommt.
Sean braucht eine ganze Weile, bis er sich so weit gefasst hat, um weiterzuspielen. Als dann die Melodie erneut in den Raum fließt, wird mir schlagartig bewusst, was das für ein Stück ist. Es ist ein Wiegenlied, dessen Noten mir in den Sinn kamen, als ich erfuhr, dass ich ein Kind erwarte.
Zu einer Statue erstarrt nehme ich alles wahr, was ich vorher verdrängen wollte. Der Verlustschmerz lähmt meine Atemwege, das Schuldgefühl bringt meine Augen zum Brennen, und während mich das Gefühl der Leere in die Knie zwingt, sehne ich mich nach einem sofortigen Tod.
Da knie ich und ergebe mich der Erkenntnis, dass ich zum ersten Mal das Richtige mache. Niemals fiel es mir schwerer, dem zu folgen, was angemessen scheint, wobei es mir auch nie so leicht fiel, vor einem Menschen niederzuknien.
Sean legt seine Gitarre beiseite, versucht mich hochzuziehen, ich aber schüttle den Kopf und beharre auf meiner gerechten Stellung. Zwar hoffe ich vergeblich darauf, Worte zu finden, die das zum Ausdruck bringen, was ich fühle, aber ich versuche es mit einem einfachen »Es tut mir leid!«
Erbärmlich, nicht wahr?
Bin ich denn des Wahnsinns, dass ich sein und mein Leben in Schutt und Asche gelegt habe und das nun mittels eines der banalsten Sätze gradebiegen will? Offenbar bin ich
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