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Mein Ist Die Nacht

Mein Ist Die Nacht

Titel: Mein Ist Die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schmidt
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sie aus.
Beinahe wäre sie auf der Schneedecke des Bürgersteigs
ausgerutscht. Sie klammerte sich mit der rechten Hand am Rahmen der
Wagentür und mit der linken am Autodach fest, als sie sich
noch einmal ins Wageninnere beugte.
    »Wir
telefonieren dann.« Ohne seine Antwort abzuwarten, warf sie
die Beifahrertür zu und wandte sich zum Gehen. Ein wenig
nachdenklich blickte sie an der stuckverzierten Fassade des Altbaus
hoch. Nur hinter einem der schmalen Fenster brannte noch Licht. Da
muss es sein, dachte sie, als hinter ihrem Rücken der Wagen
ihres Freundes anfuhr.
    Er war wütend und
gab zu viel Gas. Prompt drehten die Antriebsräder des Opels
durch. Sekundenlang schlingerte der alte Kombi, dann hatte er den
Wagen wieder unter Kontrolle und fuhr in gemäßigtem
Tempo weiter. Er verfuhr sich in dem Labyrinth aus
Einbahnstraßen, bog irgendwann in die Bembergstraße ab
und passierte die alte Wupperbrücke. Schwarz glitzerte der
Fluss im Zwielicht. Die rot glühenden Rücklichter des
Opels verschwanden in der Nacht.
    Als auch das
Motorengeräusch verebbt war, griff die Stille der Winternacht
mit ihren eisigen Klauen nach ihr. Eigentlich liebte sie diese
paradiesische Stille, die es nur in verschneiten Winternächten
gab. Es war, als würde die Welt unter einer Schallschutzglocke
aus frischem weißem Schnee versinken. Jedes Geräusch
wurde geschluckt, die Landschaft wirkte friedlich wie im
Märchen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann es zum
letzten Mal einen derartigen Winter in der Gegend gegeben hatte.
Das Klima ist im Eimer, dachte sie. Die Sommer waren tropisch
heiß und die Winter wurden von Jahr zu Jahr härter und
länger. Es gab nur noch Extreme, keinen normalen Winter und
keinen normalen Sommer
mehr.         
    Als sie den Kopf in
den Nacken legte und an dem Gebäude empor blickte, sah sie
einen hoch gewachsenen Schatten hinter einem der Fenster
auftauchen.
    Er erwartete sie also
schon.
    Ihr Weg führte in
einen kleinen Hof. Rechts eine Laderampe, die seit Jahren vor sich
hin rostete, links der Eingang. Eine nackte Birne warf ihr bizarres
Licht in den Schnee. Sie betrat den Hauseingang, brauchte nicht
nach der richtigen Klingel zu suchen, da er oben bereits den
Türöffner betätigte. Als sie sich gegen die schwere
Haustüre warf, fiel sie fast in das Innere des Altbaus. Oben
wurde das Treppenhauslicht eingeschaltet, und sie fand sich neben
einer Reihe von blechernen Briefkästen wieder. Wahrscheinlich
waren zu besseren Zeiten mehrere Firmen in diesem
Gebäudekomplex untergebracht gewesen. Eine ausgetretene
Betontreppe führte am Lastenaufzug vorbei nach oben. Es roch
muffig, und sie rümpfte angewidert die Nase.
    »Nimm den
Aufzug, erster Stock!«, hallte seine Stimme von oben durch
das nackte Treppenhaus.
    »In
Ordnung«, rief sie hoch und wandte sich nach links. Sie
öffnete die schwere Tür des Lastenaufzugs und
drückte auf die glühende Eins. Knarrend und rumpelnd
setzte sich die große Kabine in Bewegung. Das Mauerwerk
schien an ihr vorüberzukriechen. Witzbolde hatten die
Wände mit Fußabdrücken versehen. Die Seile, die den
Aufzug nach oben zogen, ächzten bedenklich, und
unwillkürlich fragte sie sich, wann der Aufzug zum letzten Mal
gewartet worden war. Das Licht an der Decke flackerte und
beschleunigte ihren Herzschlag. Ein Stromausfall in der Kabine des
alten Aufzuges wäre so ziemlich das Letzte, was sie jetzt
gebrauchen konnte. Im Schneckentempo erreichte der Lift die obere
Etage. Eine große, handgemalte Eins an der Eisentür
verriet ihr, dass sie angekommen war. Sie stemmte sich mit dem
Gewicht ihres Körpers gegen die Tür, die mit einem
ohrenbetäubenden Quietschen nachgab. Auf dem Gang schleuderte
ihr eine einzelne nackte Birne ihren grellen Lichtschein entgegen.
Ihr war egal, wie ihr Auftraggeber hier hauste. Sie wollte hier
nicht einziehen - sie wollte hier einen Job machen und dann wieder
verschwinden. Schnell verdientes Geld, ohne Bürokratie und
ohne Finanzamt. Und ganz nebenbei konnte sie ihre Neigung ausleben.
So mochte sie es.
    Leise Musik drang ihr
entgegen. Sie zögerte einzutreten und klopfte gegen das
vergilbte Holz einer Tür, die nur angelehnt war.
    »Hallo?«,
rief sie nach drinnen.
    Schritte näherten
sich. Die Tür wurde weiter geöffnet, und sein Gesicht
erschien im Rahmen. Tiefe Ringe lagen unter seinen wachsamen Augen,
die Wangenknochen waren hoch und kantig, die Lippen schmal, aber
dennoch sinnlich. Ihr kam es sofort so vor, als könne er auf
den

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