Mein ist die Stunde der Nacht
nahm ihn dann mit einem Seufzen heraus und schlug ihn auf. Sein Blick fiel auf das Datum, und er dachte, es müsse wohl doch eine Art unbewusste Absicht gewesen sein, die ihn zu der Akte geführt hatte. Nächste Woche, am Columbus Day, würde es genau zwanzig Jahre her sein, dass Karen Sommers ermordet worden war.
Die Akte hätte eigentlich bei den anderen ungelösten Fällen aufbewahrt werden müssen, aber drei aufeinanderfolgende Staatsanwälte von Orange County hatten seinem Wunsch nachgegeben, sie in Reichweite zu behalten. Vor zwanzig Jahren war Sam als erster Beamter vor Ort gewesen, nachdem eine völlig verstörte Frau angerufen und in den Hörer geschrien hatte, ihre Tochter sei erstochen worden.
Wenige Minuten später, als er das Haus an der Mountain Road in Cornwall-on-Hudson betreten hatte, war im Schlafzimmer des Opfers bereits eine Reihe von zu Hilfe geeilten Menschen versammelt gewesen, denen das Grauen
im Gesicht geschrieben stand. Ein Nachbar hatte sich über das Bett gebeugt und versucht, eine vollkommen nutzlose Mund-zu-Mund-Beatmung durchzuführen. Andere hatten sich bemüht, die verstörten Eltern vom grässlichen Anblick der brutal zugerichteten Leiche ihrer Tochter wegzudrängen.
Karen Sommers’ schulterlanges Haar war über das Kissen ausgebreitet gewesen. Nachdem er den übereifrigen Helfer beiseitegeschoben hatte, war Sam der grauenhaften Stichwunden in Karens Brust und Herz ansichtig geworden, die zu ihrem sofortigen Tod geführt haben mussten. Das Laken war geradezu durchtränkt gewesen mit ihrem Blut.
Er entsann sich, dass er als Erstes gedacht hatte, die junge Frau habe ihren Mörder wahrscheinlich nicht einmal eintreten hören. Vermutlich ist sie überhaupt nicht aufgewacht, dachte er, während er kopfschüttelnd in der Akte blätterte. Die Schreie der Mutter hatten nicht nur die Nachbarn zu Hilfe eilen lassen, sondern auch einen Gärtner und einen Boten, die sich gerade auf dem Nachbargrundstück aufgehalten hatten. Am Tatort hatte daher ein großes Durcheinander geherrscht, wodurch möglicherweise wertvolle Spuren vernichtet worden waren.
Es hatte keinerlei Hinweise auf einen Einbruch gegeben. Gefehlt hatte auch nichts. Karen Sommers, eine zweiundzwanzigjährige Medizinstudentin, hatte ihre Eltern mit einem Besuch überrascht und war über Nacht geblieben. Der erste Verdacht war logischerweise auf ihren Exfreund, Cyrus Lindstrom, gefallen, der im dritten Jahr Jura an der Columbia University studierte. Er hatte zugegeben, dass es Karen gewesen sei, die den Vorschlag gemacht habe, sich fürs Erste zu trennen, aber er hatte gleichzeitig darauf beharrt, dass dies auch sein Wunsch gewesen sei, weil keiner von ihnen zu einer engeren Beziehung bereit gewesen sei. Sein Alibi – er habe in der Wohnung geschlafen, die er mit drei anderen Jurastudenten teilte – war bestätigt worden, obwohl alle drei Wohnungsgenossen zugegeben hatten, vor Mitternacht schlafen
gegangen zu sein, und daher nicht mit Bestimmtheit ausschließen konnten, dass Lindstrom die Wohnung nach diesem Zeitpunkt verlassen hatte. Den Schätzungen zufolge war Karen Sommers’ Tod zwischen zwei und drei Uhr morgens eingetreten.
Lindstrom war ein paar Mal im Haus der Sommers’ zu Besuch gewesen. Er wusste, dass ein Reserveschlüssel unter dem Zierfelsen in der Nähe der hinteren Haustür lag. Er wusste, dass sich Karens Zimmer gleich rechts vom Treppenaufgang befand. Aber damit konnte man nicht beweisen, dass er mitten in der Nacht die fünfzig Meilen von der Ecke Amsterdam Avenue und 104. Straße in Manhattan nach Cornwall-on-Hudson gefahren war und sie ermordet hatte.
Person of interest , weder verdächtig noch unverdächtig – so bezeichnen wir heutzutage Leute wie Lindstrom, dachte Sam. Ich war und bin immer noch überzeugt, dass er es gewesen ist. Nie habe ich verstanden, wieso Karens Eltern so zu ihm gestanden haben. Meine Güte, man hätte fast glauben können, sie verteidigten ihren eigenen Sohn.
Unwillig ließ Sam die Akte auf seinen Schreibtisch fallen, erhob sich und ging zum Fenster. Von seinem Standpunkt aus konnte er den Parkplatz überblicken, und er erinnerte sich an einen Vorfall mit einem Häftling, der des Mordes angeklagt war. Der hatte zunächst einen Wärter überwältigt, war dann aus dem Fenster des Gerichtsgebäudes gesprungen, über den Parkplatz gehetzt, hatte einen Mann, der gerade in seinen Wagen steigen wollte, beiseitegestoßen und war davongebraust.
Binnen zwanzig Minuten haben wir ihn
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