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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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geworfen. Später schwoll die Zahl der ausländischen »Fahnenflüchtigen« im Gefängnis zu Hunderten an. Aber die meisten von ihnen wurden nach Hause entlassen, als man sich in ihren eigenen Ländern darüber aufregte.
    Bewaffnete Sturmgardisten durchstreiften überall die Straßen, die Zivilgardisten hielten immer noch Cafés und andere Gebäude an strategisch wichtigen Stellen besetzt. Viele Gebäude der P.S.U.C. waren noch verbarrikadiert und mit Sandsäcken geschützt. An verschiedenen Stellen der Stadt hielten die Wachtposten der Zivilgardisten oder Carabineros die Vorübergehenden an und verlangten ihre Papiere. Jeder warnte mich, meine P.O.U.M.-Milizkarte zu zeigen, ich sollte nur meinen Paß und meinen Lazarettschein vorweisen. Es war nämlich sogar gefährlich, wenn sie erfuhren, daß man in der P.O.U.M.-Miliz gedient hatte. Milizsoldaten der P.O.U.M. die verwundet worden waren oder Urlaub hatten, wurden auf kleinliche Weise benachteiligt. So erschwerte man ihnen beispielsweise die Auszahlung ihrer Löhne. La Batalla erschien noch, aber sie wurde derartig zensiert, daß fast nichts mehr darin stand. Auch Solidaridad und die anderen anarchistischen Zeitungen wurden in großem Umfang zensiert. Es gab eine Vorschrift, nach der die von der Zensur beanstandeten Abschnitte einer Zeitung nicht leer bleiben durften, sondern mit anderen Meldungen gefüllt werden mußten. Deshalb war es manchmal unmöglich zu sagen, wo etwas weggelassen worden war.
    Die Lebensmittelknappheit, die während des ganzen Krieges ständig wechselte, hatte eins ihrer schlimmsten Stadien erreicht. Das Brot war knapp, und die billigeren Sorten wurden mit Reis verfälscht. In den Kasernen erhielten die Soldaten ein furchtbares Brot, es war wie Kitt. Auch Milch und Zucker waren sehr knapp, und Tabak gab es fast überhaupt nicht, nur die teuren geschmuggelten Zigaretten. Olivenöl, das die Spanier für ein halbes Dutzend verschiedener Zwecke benutzen, gab es ebenfalls nur selten. Berittene Zivilgardisten kontrollierten die Schlange stehenden Frauen, die Olivenöl kaufen wollten. Manchmal machten sich die Zivilgardisten ein Vergnügen daraus, ihre Pferde rückwärts in die Schlange hineinzumanövrieren, und versuchten, sie dazu zu bringen, den Frauen auf die Füße zu treten. Ein anderes, wenn auch kleineres Übel war damals der Mangel an Kleingeld. Silber war aus dem Verkehr gezogen worden, und bisher hatte man noch keine neuen Münzen ausgeliefert. So gab es zwischen dem Zehn-Centimo-Stück und der Zweieinhalb-Peseten-Banknote kein anderes Wechselgeld, ja selbst alle Noten unter zehn Peseten waren sehr selten 1 .
    Für die Ärmsten der Bevölkerung bedeutete das eine zusätzliche Verschärfung der Lebensmittelknappheit. So konnte es geschehen, daß eine Frau mit einem Zehnpesetenschein stundenlang in einer Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft warten mußte und dann nicht in der Lage war, etwas zu kaufen, weil der Händler kein Wechselgeld hatte und sie es sich nicht leisten konnte, den ganzen Geldschein auszugeben.
    Es ist nicht leicht, die Atmosphäre jener Zeit wiederzugeben, die wie ein Alpdruck auf uns lastete; es war eine eigentümliche Unruhe, das Ergebnis immer neuer Gerüchte, verstärkt noch durch die Zensur der Zeitungen und die dauernde Anwesenheit von Soldaten. Diese Atmosphäre läßt sich schwer schildern, weil in England auch heute eine wichtige Voraussetzung einer derartigen Situation fehlt. In England nimmt man politische Intoleranz noch nicht als selbstverständlich hin. Es gibt zwar eine kleinliche Art der politischen Verfolgung, so würde ich mich als Bergarbeiter hüten, den Boß wissen zu lassen, daß ich ein Kommunist bin. Aber der »gute Parteigänger«, das Gangster-Grammophon kontinentaler Politik, ist bei uns immer noch eine Seltenheit. Es scheint auch nicht gerade natürlich zu sein, jeden, der mit der eigenen Meinung nicht übereinstimmt, einfach zu »liquidieren« oder »auszulöschen«. In Barcelona schien das nur leider allzu natürlich zu sein. Die »Stalinisten« saßen im Sattel, und darum war es eine Selbstverständlichkeit, daß jeder »Trotzkist« in Gefahr war. Nur, was jeder befürchtete, geschah nicht – der erneute Ausbruch der Straßenkämpfe, die man dann wie beim letztenmal der P.O.U.M. oder den Anarchisten zur Last gelegt hätte. Zeitweilig ertappte ich mich dabei, wie ich auf die ersten Schüsse lauschte. Es war, als brüte ein riesiger, übler Geist über der Stadt. Jeder bemerkte es und

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