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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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grüßten mit der geballten Faust den roten Salut. Es war ein allegorisches Bild des Krieges, eine Zugladung frischer Leute glitt stolz zur Front, die Verwundeten glitten langsam zurück. Und wenn man die Kanonen auf den offenen Wagen sah, schlug einem das Herz höher, wie immer, wenn man Kanonen sieht. Wir alle unterlagen wieder einmal dem verderblichen Gefühl, von dem man sich so schwer lösen kann, daß der Krieg eben doch prächtig ist.
    Das Lazarett in Tarragona war sehr groß und voll Verwundeter von allen Fronten. Was für Wunden sah man dort! Man hatte hier, vermutlich in Übereinstimmung mit der jüngsten medizinischen Praxis, eine besondere Art, die Wunden zu behandeln, die aber besonders schrecklich anzusehen war. Sie bestand darin, daß man die Wunden vollständig offen und unverbunden ließ und nur durch ein Netz aus Mull, das über Drähte gelegt wurde, vor den Fliegen schützte. Unter dem Mull konnte man die rote Gallerte der halbverheilten Wunden sehen. Ich sah einen Mann, der im Gesicht und am Hals verwundet worden war und dessen Kopf unter einem kugelförmigen Helm aus Mull steckte. Sein Mund war verschlossen, und er atmete durch eine kleine Röhre, die zwischen seinen Lippen befestigt war. Der arme Teufel schaute so verlassen aus, wenn er hin und her wanderte und jeden aus seinem Mullkäfg anguckte und doch nicht sprechen konnte. Ich lag drei oder vier Tage in Tarragona. Meine Kräfte kehrten zurück, und eines Tages gelang es mir, langsam gehend bis an den Strand zu wandern. Es war seltsam zu sehen, wie der Badebetrieb fast wie normal ablief. Die feinen Cafés an der Promenade, die plumpen Bürger der Stadt, die badeten und sich sonnten, als gäbe es im Umkreis von anderthalbtausend Kilometer keinen Krieg. Trotzdem sah ich, wie das manchmal so geschieht, daß ein Badender ertrank. Das hätte ich bei der fachen und lauwarmen See für unmöglich gehalten.
    Acht oder neun Tage nachdem ich die Front verlassen hatte, wurden endlich meine Wunden untersucht. Die neuangekommenen Fälle wurden in der Chirurgie untersucht. Ärzte hackten mit großen Scheren die Brustplatten aus Gips in Stücke, in die man die Männer mit ihren zerschlagenen Rippen und Halswirbeln auf den Verbandsplätzen hinter der Front eingehüllt hatte. Da sah man zum Beispiel ein ängstliches, schmutziges Gesicht mit dem struppigen Bart einer Woche, das aus der Halsöffnung einer großen, ungefügen Brustplatte hervorlugte. Der Doktor, ein frischer, gut aussehender dreißigjähriger Mann, setzte mich auf einen Stuhl, griff meine Zunge mit einem rauhen Stück Gaze, zog sie so weit, wie es ging, heraus, schob einen Zahnarztspiegel in meinen Rachen und forderte mich auf, »Ah!« zu sagen. Nachdem ich das so lange getan hatte, bis meine Zunge blutete und meine Augen überliefen, sagte er mir, eins meiner Stimmbänder sei gelähmt.
    »Wann werde ich meine Stimme wiederbekommen?« sagte ich. »Ihre Stimme? Ach, Sie werden Ihre Stimme nie zurückbekommen«, sagte er heiter.
    Wie es sich später herausstellte, hatte er aber unrecht. Zwei Monate lang konnte ich kaum wispern, dann wurde meine Stimme plötzlich normal, das andere Stimmband hatte sich »angepaßt«. Der Schmerz in meinem Arm wurde dadurch verursacht, daß die Kugel ein Nervenbündel hinten an meinem Hals durchschlagen hatte. Der Schmerz stach wie Neuralgie und dauerte etwa einen Monat, besonders nachts, so daß ich nicht viel Schlaf bekam. Auch die Finger meiner rechten Hand waren halb gelähmt. Selbst heute, fünf Monate später, ist mein Zeigefinger noch empfindungslos, eine seltsame Folge für eine Halswunde.
    Die Wunde war gewissermaßen eine Kuriosität, und verschiedene Ärzte untersuchten sie mit viel Zungenschnalzen und »Qué suerte! Qué suerte!« Einer sagte mir mit dem Gefühl der Autorität, die Kugel habe die Schlagader nur »um einen Millimeter« verfehlt. Ich weiß nicht, woher er das wußte. Niemand, den ich damals traf – Ärzte, Schwestern, practicantes oder verwundete Kameraden –, unterließ es, mir zu sagen, daß ein Mann, der einen Schuß durch den Hals bekommen habe und das überlebte, die glücklichste Kreatur auf Erden sei. Mir kam es so vor, als ob man noch glücklicher ist, wenn man überhaupt nicht getroffen wird.

 
 
DREIZEHNTES KAPITEL
     
    Während der letzten Wochen, die ich in Barcelona verbrachte, lag ein eigentümliches, böses Gefühl in der Luft, es war eine Atmosphäre des Mißtrauens, der Furcht, der Ungewißheit und des verhüllten

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