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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Ja, der Tenor ihrer Politik bestand in dem Versuch, aus den zwei Blöcken der Gewerkschaften eine riesige Koalition zu formen. Man war der Ansicht, daß die C.N.T. und die U.G.T. zusammen marschieren und ihre Solidarität zeigen sollten. Aber im letzten Moment wurde die Demonstration abgesagt. Es war vollständig klar, daß sie nur zu einem Aufruhr führen würde. So ereignete sich am 1.Mai nichts. Es war ein seltsamer Zustand. Barcelona, die sogenannte Revolutionsstadt, war wahrscheinlich an diesem Tage die einzige Stadt im nichtfaschistischen Europa, wo es keine Feiern gab. Aber ich gebe zu, daß ich sehr erleichtert war. Die I.L.P.-Gruppe sollte in der P.O.U.M.-Abteilung des Umzuges marschieren, und jeder erwartete Unruhen. In einen bedeutungslosen Straßenkampf verwickelt zu werden war das letzte, was ich mir wünschte. Hinter einer roten Fahne mit erhebenden Parolen die Straße hinaufzumarschieren und dann aus einem der oberen Fenster von einem völlig Fremden mit einer Maschinenpistole erschossen zu werden, so stelle ich mir jedenfalls einen nützlichen Tod nicht vor.

 
ZEHNTES KAPITEL
     
    Am 3. Mai gegen Mittag sagte ein Freund, der durch die Hotelhalle ging, beiläufig: »Am Telefonamt hat es einige Unruhen gegeben, wie ich höre.« Aus irgendeinem Grund schenkte ich ihm damals keine Beachtung.
    Als ich am gleichen Nachmittag zwischen drei und vier Uhr etwa in der Mitte der Rambla war, hörte ich einige Gewehrschüsse. Ich drehte mich um und sah einige Burschen mit Gewehren in den Händen und rotschwarzen Taschentüchern der Anarchisten um den Hals, die eine Seitenstraße entlangschlichen, welche von der Rambla nach Norden abzweigt. Sie schossen offensichtlich auf jemand in einem hohen, achteckigen Turm – ich glaube einer Kirche –, der diese Seitenstraße beherrschte. Sofort dachte ich: »Nun geht’s los.« Aber ich war nicht sonderlich überrascht, denn tagelang hatte jeder erwartet, daß »es« jeden Augenblick losgehen werde. Ich war mir im klaren darüber, daß ich sofort ins Hotel zurückgehen mußte, um zu sehen, ob meine Frau in Sicherheit war. Aber die Anarchisten an der Einmündung der Seitenstraße winkten die Leute zurück und schrien, sie sollten die Schußlinie nicht überqueren. Weitere Schüsse fielen. Die Kugeln, die vom Turm kamen, flogen über die Straße, und ein Haufen Leute rannte in Panik von der Schießerei weg die Rambla hinunter. Entlang der ganzen Straße hörte man ein Schnapp, Schnapp, Schnapp, als die Ladenbesitzer die Stahljalousien vor ihren Schaufenstern herabließen. Ich sah, wie zwei Offiziere der Volksarmee, die Hand am Revolver, vorsichtig von Baum zu Baum zurücksprangen. Vor mir flutete die Menge in die U-Bahn-Station in der Mitte der Rambla, um Deckung zu suchen. Ich entschloß mich sofort, ihnen nicht zu folgen. Es konnte bedeuten, daß man stundenlang unter der Erde gefangen blieb.
    In diesem Augenblick lief ein amerikanischer Arzt, der mit mir an der Front gewesen war, auf mich zu und packte mich am Arm. Er war ziemlich aufgeregt.
    »Los, wir müssen zum Hotel ›Falcon‹ hinunter.« (Das Hotel ›Falcon‹ war ein Gästehaus der P.O.U.M. und wurde hauptsächlich von Milizsoldaten im Urlaub benutzt.) »Die P.O.U.M.-Leute werden sich dort treffen. Die Unruhen haben begonnen. Wir müssen zusammenhalten.«
    »Aber zum Teufel, worum geht es denn?« sagte ich. Der Arzt zog mich am Arm weiter. Er war zu aufgeregt, um mir eine genaue Erklärung geben zu können. Anscheinend war er auf der Plaza de Cataluña gewesen, als einige Lastwagen mit bewaffneten Zivilgardisten 1 vor dem Telefonamt auffuhren, indem hauptsächlich C.N.T.-Arbeiter beschäftigt waren, und es überraschend angriffen.
    1 Eine nach dem Tode Orwells gefundene Korrekturnotiz lautet: »In sämtlichen Kapiteln werden ›Zivilgardisten‹ erwähnt. Es sollte überall ›Sturmgardisten‹ heißen. Ich. wurde getäuscht, da die Sturmgardisten in Katalonien eine andere Uniform trugen als diejenigen, die später aus Valencia geschickt wurden. Außerdem nannten die Spanier alle Verbände ›la guardia‹. Die unbestrittene Tatsache, daß die Zivilgardisten sich, wenn irgend möglich, Franco anschlossen (vgl. Anmerkung S. 252), wirft kein schlechtes Licht auf die Sturmgardisten, deren Verband erst nach Beginn der Zweiten Republik aufgestellt wurde. Aber die allgemeine Bemerkung über die öffentliche Feindseligkeit gegen ›la guardia‹, auch gegen ihre Rolle bei den Kämpfen in Barcelona, sollten stehen

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