Mein Katalonien
Ladenaufseher machten ihre Bücklinge in der gewohnten Weise. Meine Frau und ich gingen in ein Strumpfgeschäft in der Rambla, um Strümpfe zu kaufen. Der Ladenbesitzer verbeugte sich und rieb seine Hände, wie man es heute nicht einmal mehr in England tut, obwohl es dort vor zwanzig oder dreißig Jahren noch üblich war. Die Gewohnheit, Trinkgelder zu geben, kam auf eine verstohlene, indirekte Weise wieder in Gebrauch. Die Aufösung der Arbeiterpatrouillen war angeordnet worden, und die Polizei der Vorkriegstage war wieder auf den Straßen. Eine Folge davon war, daß die Kabaretts und Bordelle der oberen Klassen, die von den Arbeiterpatrouillen geschlossen worden waren, prompt wieder öffneten 1 .
1 Eine Anmerkung Orwells in der Originalausgabe lautete: »Es hieß, die Arbeiterpatrouillen hätten fünfundsiebzig Prozent der Bordelle geschlossen.« In einer nach seinem Tode gefundenen Korrekturnotiz heißt es: »Diese Bemerkung muß geändert werden. Ich habe keinen einwandfreien Beweis, daß die Prostitution in den ersten Tagen des Krieges um fünfundsiebzig Prozent zurückging, und ich glaube, die Anarchisten kollektivierten die Bordelle, unterdrückten sie aber nicht. Aber es gab eine Kampagne gegen die Prostitution (Plakate und so weiter). Es steht außerdem fest, daß die schicken Bordell- und Nacktshows der Kabaretts während der ersten Monate des Krieges geschlossen wurden und erst wieder öffneten, als der Krieg schon ein Jahr lang andauerte.«
Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel dafür, wie sich alles wieder zugunsten der wohlhabenden Klasse ordnete, zeigte der Mangel an Tabak. Für die Masse der Bevölkerung war die Tabakknappheit so verzweifelt, daß mit zerhackten Lakritzwurzeln gefüllte Zigaretten in den Straßen verkauft wurden. Einmal versuchte ich einige davon. (Viele Leute probierten sie einmal.) Franco beherrschte die Kanarischen Inseln, wo der ganze spanische Tabak angepfanzt wird. Folglich gab es auf der Regierungsseite nur jene Tabakvorräte, die schon vor dem Krieg dort gelagert hatten. Diese Vorräte hatten sich so verringert, daß die Tabakläden nur einmal in der Woche geöffnet wurden. Wenn man ein paar Stunden in einer Schlange gewartet und Glück hatte, konnte man ein Fünfundzwanzig-Gramm-Päckchen Tabak erhalten. Theoretisch erlaubte die Regierung nicht, daß Tabak im Ausland gekauft wurde, denn das bedeutete eine Verminderung der Goldreserven, die für Waffen und andere notwendige Güter eingeteilt werden mußten. In Wirklichkeit gab es ständig Nachschub an geschmuggelten ausländischen Zigaretten der teureren Sorten, Lucky Strike und so weiter. Das war natürlich eine großartige Gelegenheit für die Profitmacher. Man konnte die geschmuggelten Zigaretten offen in den feinen Hotels und kaum weniger offen in den Straßen kaufen, vorausgesetzt, daß man zehn Peseten für ein Päckchen bezahlen konnte (den Tagessold eines Milizsoldaten). Der Schmuggel kam den wohlhabenden Leuten zugute und wurde deshalb stillschweigend geduldet. Wenn man Geld hatte, gab es nichts, das man nicht in irgendeiner Qualität kaufen konnte, mit der einzigen Ausnahme von Brot, das ziemlich scharf rationiert wurde. Ein paar Monate früher, als die Arbeiterklasse noch an der Macht war oder es zumindest so schien, wäre dieser offene Kontrast zwischen Wohlstand und Armut unmöglich gewesen. Aber es wäre nicht fair, dies allein dem Wechsel in der politischen Gewalt zuzuschreiben. Zum Teil war es die Folge der Sicherheit des Lebens in Barcelona, wo es außer einem gelegentlichen Luftangriff wenig gab, was einen an den Krieg erinnern konnte. Jeder, der in Madrid gewesen war, sagte, dort sei es vollständig anders. In Madrid zwang die gemeinsame Gefahr Leute fast jeder Herkunft zu einer Art Kameradschaft. Es sieht abscheulich aus, wenn ein fetter Mann Wachteln ißt, während Kinder um Brot betteln. Aber so etwas sieht man kaum in der Nähe des Kanonendonners.
Ich erinnere mich, daß ich ein oder zwei Tage nach den Straßenkämpfen durch eine der vornehmen Straßen kam und einen Süßigkeitenladen fand, dessen Schaufenster feinstes Gebäck und Bonbons zu unglaublichen Preisen enthielt. Es war ein Laden, wie man sie in der Bond Street oder der Rue de la Paix sieht. Ich erinnere mich, wie ich einen unbestimmbaren Schrecken und Verwunderung darüber verspürte, daß man in einem hungrigen, vom Kriege heimgesuchten Land noch Geld auf solche Dinge verschwenden konnte. Aber Gott verhüte, daß ich persönliche
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