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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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»Analyse« der Situation, wie sie so leichtfertig von Journalisten Hunderte von Kilometern entfernt gemacht wurde. Ich dachte nicht so sehr über Recht und Unrecht dieses elenden, mörderischen Streites nach, sondern einfach über das Unbehagen und die Langeweile, Tag und Nacht auf diesem unerträglichen Dach zu sitzen, während unser Hunger stärker und stärker wurde, denn niemand von uns hatte seit Montag eine anständige Mahlzeit gehabt. Ich dachte dauernd, daß ich, sobald diese Geschichte vorbei war, zur Front zurückmüsse. Ich hätte aus der Haut fahren können. Ich war hundertfünfzehn Tage an der Front gewesen – und heißhungrig auf ein bißchen Ruhe und Komfort nach Barcelona zurückgekommen. Statt dessen mußte ich meine Zeit damit verbringen, auf einem Dach den Zivilgardisten gegenüberzusitzen, die genauso gelangweilt waren wie ich und die von Zeit zu Zeit herüberwinkten und mir versicherten, daß sie »Arbeiter« seien. (Womit sie ihre Hoffnung ausdrückten, ich würde nicht auf sie schießen.) Sicherlich aber würden sie das Feuer eröffnen, falls sie den Befehl dazu erhielten. Wenn das Geschichte war, fühlte ich mich nicht danach. Es glich vielmehr der schlechten Zeit an der Front, wenn nicht genügend Soldaten da waren und wir zusätzliche Stunden Wache schieben mußten. Statt heroisch zu sein, mußte man auf seinem Posten bleiben, voller Langeweile, vor Schlaf umfallend und vollständig desinteressiert daran, worum es eigentlich ging.
    Im Hotel hatte sich unter dem heterogenen Haufen, von welchem die meisten nicht gewagt hatten, ihre Nase aus der Türe zu stecken, eine scheußliche Atmosphäre des Mißtrauens gebildet. Verschiedene Leute waren von einer Spionagehysterie angesteckt worden, schlichen umher und wisperten, alle anderen seien Spione der Kommunisten oder der Trotzkisten oder der Anarchisten oder sonst irgendeiner Partei. Der fette russische Agent dagegen knöpfte sich nacheinander jeden ausländischen Flüchtling vor und erklärte ihm überzeugend, die ganze Geschichte sei eine anarchistische Verschwörung. Ich beobachtete ihn mit einigem Interesse, denn ich sah zum erstenmal einen Menschen, dessen Beruf es war, Lügen zu erzählen – es sei denn, man zählt die Journalisten mit. Die Parodie auf das feine Hotelleben, die immer noch hinter heruntergelassenen Jalousien mitten im Rattern des Gewehrfeuers weiterging, hatte etwas Abstoßendes an sich. Man hatte den Speisesaal an der Straßenseite verlassen, nachdem eine Kugel durch das Fenster geschlagen war und eine Säule angekratzt hatte. Die Gäste drängten sich jetzt in einem dunklen Raum nach rückwärts zusammen, wo es nie genug Tische für alle gab. Die Zahl der Kellner hatte sich verringert. Einige von ihnen waren Mitglieder der C.N.T. und hatten sich dem Generalstreik angeschlossen. Sie hatten sofort ihre Frackhemden abgelegt, aber die Mahlzeiten wurden immer noch unter der Vorspiegelung eines gewissen Zeremoniells serviert. Praktisch gab es jedoch nichts zu essen. An diesem Donnerstag abend bestand der Hauptgang des Diners aus einer Sardine für jeden Gast. Tagelang hatte es im Hotel schon kein Brot mehr gegeben, und selbst der Wein wurde so knapp, daß wir immer älteren Wein zu immer höherem Preis tranken. Noch einige Tage, nachdem die Kämpfe vorbei waren, dauerte der Lebensmittelmangel an. Ich erinnere mich, daß meine Frau und ich drei Tage lang zum Frühstück nur ein kleines Stückchen Ziegenmilchkäse ohne Brot und nichts zu trinken bekamen. Nur Orangen gab es in Hülle und Fülle. Die französischen Lastwagenfahrer brachten große Mengen ihrer Orangen in das Hotel. Sie waren eine rauhe Bande, bei ihnen waren einige auffällige spanische Mädchen und ein riesiger Lastenträger in einer schwarzen Bluse. Zu jeder anderen Zeit hätte der ziemlich snobistische Hoteldirektor sein Bestes getan, sie zu schneiden, ja er hätte sich geweigert, sie überhaupt in das Hotel zu lassen. Aber jetzt waren sie beliebt, denn sie hatten im Gegensatz zu den übrigen von uns einen privaten Vorrat Brot, und jeder versuchte, ihnen etwas abzubetteln.
    Ich verbrachte jene letzte Nacht auf dem Dach, und am nächsten Tag sah es tatsächlich so aus, als kämen die Kämpfe zu einem Ende. Ich glaube nicht, daß an jenem Tag, es war Freitag, viel geschossen wurde. Niemand schien genau zu wissen, ob die Truppen aus Valencia wirklich kämen. Tatsächlich kamen sie am gleichen Abend an. Die Regierung verbreitete teils beruhigende, teils drohende

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