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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Botschaften über den Rundfunk und forderte jeden auf, nach Hause zu gehen. Sie erklärte, daß diejenigen, die man nach einer gewissen Zeit noch mit Waffen antreffe, verhaftet würden. Man schenkte den Verlautbarungen der Regierung wenig Aufmerksamkeit, aber überall entfernten sich die Leute von den Barrikaden. Ich habe keinen Zweifel, daß hauptsächlich die Lebensmittelknappheit dafür verantwortlich war. Von allen Seiten hörte man die gleiche Bemerkung: »Wir haben kein Essen mehr, wir müssen an die Arbeit zurück.« Andererseits konnten die Zivilgardisten, da sie damit rechnen konnten, ihre Rationen zu erhalten, solange es noch Lebensmittel in der Stadt gab, auf ihrem Posten bleiben. Am Nachmittag waren die Straßen fast schon normal, obwohl die verlassenen Barrikaden noch standen. Die Rambla war gedrängt voll von Menschen, nahezu alle Geschäfte hatten geöffnet, und das beruhigendste von allem war, daß die Straßenbahnen, die so lange wie eingefroren gestanden hatten, anruckten und wieder fuhren. Die Zivilgardisten hielten immer noch das Café ›Moka‹ besetzt und hatten ihre Barrikaden noch nicht abgerissen. Aber einige von ihnen brachten Stühle heraus und saßen mit den Gewehren über den Knien auf dem Bürgersteig. Ich winkte einem zu, als ich vorbeiging, aber er schenkte mir nur ein unfreundliches Grinsen; natürlich erkannte er mich. Die anarchistische Flagge war auf dem Telefonamt niedergeholt worden, und nun flatterte dort nur die katalanische Flagge. Das hieß also, man hatte die Arbeiter endgültig überwältigt. Ich erkannte wegen meiner politischen Unwissenheit vielleicht nicht so klar, wie ich sollte, daß die Regierung in dem Augenblick, da sie sich sicherer fühlte, Vergeltungsmaßnahmen ergreifen würde. Aber damals interessierte ich mich für diese Seite der Geschichte noch nicht. Ich empfand nur tiefe Erleichterung darüber, daß das teuflische Getöse der Schießerei vorbei war, daß man einige Lebensmittel kaufen und sich vor der Rückkehr zur Front ein wenig Ruhe und Frieden gönnen konnte.
    Es muß spät an jenem Abend gewesen sein, als die Truppen aus Valencia zum ersten Male auf der Straße erschienen. Es waren Sturmgardisten, eine weitere Truppe ähnlich den Zivilgardisten und den Carabineros (also eine Einheit, die hauptsächlich für Polizeidienste vorgesehen war). Außerdem waren sie die Elitetruppe der Republik. Sie schienen ganz plötzlich aus dem Boden zu schießen. Man sah sie überall zu Zehnergruppen durch die Straßen patrouillieren, große Männer in grauen oder blauen Uniformen, mit langen Gewehren über den Schultern und einer Maschinenpistole in jeder Gruppe. Unterdessen mußten wir noch eine heikle Aufgabe erledigen. Die sechs Gewehre, die wir bei der Wache in den Observatoriumstürmen benutzt hatten, lagen immer noch dort, und auf Biegen oder Brechen mußten wir sie in das P.O.U.M.-Gebäude zurücktransportieren. Die Frage war nur, wie man sie über die Straße bringen konnte. Sie gehörten zur regulären Ausrüstung des Gebäudes, aber es wäre gegen die Anordnung der Regierung gewesen, sie auf die Straße zu bringen. Hätte man uns mit den Waffen in der Hand erwischt, wären wir sicherlich verhaftet worden, und, schlimmer noch, man hätte die Gewehre beschlagnahmt. Wir konnten es uns nicht leisten, von nur einundzwanzig Gewehren im Haus sechs zu verlieren. Nach einer langen Diskussion über die beste Methode begannen ein rothaariger spanischer Bursche und ich selbst, sie hinauszuschmuggeln. Es war recht leicht, den Patrouillen der Sturmgardisten zu entgehen. Die Gefahr drohte von den Zivilgardisten im ›Moka‹, die alle wußten, daß wir Gewehre im Observatorium hatten und uns hätten verraten können, wenn sie gesehen hätten, wie wir sie hinübertrugen. Wir beide entkleideten uns zunächst halbwegs und schnallten uns den Gewehrriemen über die linke Schulter, hielten den Kolben unter der Armhöhle und den Lauf in das Hosenbein hinunter. Unglücklicherweise waren es lange Mausergewehre. Selbst ein langer Mann wie ich kann ein langes Mausergewehr im Hosenbein nicht ganz ohne Unbequemlichkeit tragen. Es war eine unausstehliche Arbeit, mit einem vollständig steifen linken Bein die Wendeltreppe des Observatoriums hinunterzusteigen. Als wir erst in der Straße waren, erkannten wir, daß die einzige Möglichkeit, sich fortzubewegen, darin bestand, äußerst langsam zu gehen, so langsam, daß man das Knie nicht zu bewegen brauchte. Vor dem Kino sah ich eine

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