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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Umbauten ausgeführt hatten. Wir machten eine Bestandsaufnahme unserer Waffen. Einschließlich der sechs Gewehre auf dem Dach des ›Poliorama‹ gegenüber besaßen wir einundzwanzig Gewehre. Eins davon war nicht in Ordnung. Außerdem hatten wir fünfzig Rahmen Munition für jedes Gewehr und ein paar Dutzend Handgranaten. Sonst hatten wir außer einigen Pistolen und Revolvern nichts. Ungefähr ein Dutzend Männer, die meisten von ihnen Deutsche, hatten sich freiwillig für einen Angriff auf das Café ›Moka‹ gemeldet, wenn es soweit wäre. Wir sollten natürlich irgendwann frühmorgens vom Dach aus angreifen und sie überraschen. Sie waren in der Übermacht, aber unsere Moral war besser, und ohne Zweifel konnten wir das Haus stürmen, obwohl Menschen dabei wahrscheinlich getötet werden würden. Wir hatten außer ein paar Tafeln Schokolade keine Lebensmittel in unserem Gebäude. Ein Gerücht machte die Runde, daß »sie« die Wasserversorgung abdrehen würden. (Niemand wußte, wer »sie« waren.
    Damit konnte die Regierung gemeint sein, die die Wasserwerke kontrollierte, oder die C.N.T. – niemand wußte es.) Wir verbrachten lange Zeit damit, jedes Becken in den Waschräumen, jeden Eimer, der uns in die Hände fiel und schließlich die fünfzehn Bierflaschen, die die Zivilgardisten Kopp gegeben hatten und die jetzt leer waren, mit Wasser zu füllen. Nach rund sechzig Stunden ohne viel Schlaf war ich in einer scheußlichen Gemütsverfassung und hundemüde. Es war jetzt spät in der Nacht. Hinter der Barrikade im Erdgeschoß schliefen überall auf dem Boden Leute. Oben gab es ein kleines Zimmer mit einem Sofa, das wir als Verbandstation benutzen wollten, obwohl ich kaum zu sagen brauche, daß es weder Jod noch Verbandzeug im Gebäude gab, wie wir entdeckt hatten. Meine Frau war vom Hotel heruntergekommen, falls wir eine Krankenschwester benötigten. Ich legte mich mit dem Gefühl auf das Sofa, daß ich vor dem Angriff auf das ›Moka‹, bei dem ich wahrscheinlich getötet werden würde, gerne eine halbe Stunde Ruhe haben möchte. Ich erinnere mich an das unerträgliche Unbehagen, das mir meine Pistole bereitete, die ich an mein Koppel gebunden hatte und die sich in meine Hüfte drückte. Als nächstes erinnere ich mich, wie ich mit einem Ruck aufwachte und meine Frau neben mir stehend fand. Es war helles Tageslicht, nichts war geschehen, die Regierung hatte der P.O.U.M. nicht den Krieg erklärt, das Wasser war nicht abgedreht worden und außer der gelegentlichen Schießerei in den Straßen war alles normal. Meine Frau sagte, sie habe es nicht über sich gebracht, mich aufzuwecken, und habe in einem der vorderen Zimmer in einem Lehnsessel geschlafen.
    Am gleichen Nachmittag gab es eine Art Waffenstillstand. Die Schießerei hörte langsam auf, und überraschend plötzlich füllten sich die Straßen mit Menschen. Einige Läden begannen die Jalousien aufzuziehen, und der Markt war mit einer riesigen Menge vollgestopft, die Lebensmittel verlangte, obwohl die Stände fast leer waren. Man konnte jedoch beobachten, daß die Straßenbahnen noch nicht wieder fuhren. Die Zivilgardisten saßen im ›Moka‹ immer noch hinter Barrikaden. Auf keiner Seite verließ man die befestigten Gebäude. Jeder rannte los und versuchte, Lebensmittel zu kaufen. Und auf jeder Seite hörte man die gleiche, ängstliche Frage: »Denkst du, es hat aufgehört? Glaubst du, es fängt wieder an?«
    »Es« – das Gefecht in den Straßen – wurde jetzt wie eine Naturgewalt betrachtet, wie ein Hurrikan oder ein Erdbeben, von dem alle gleichzeitig betroffen wurden und das aufzuhalten niemand von uns die Kräfte besaß. Und richtig, fast sofort danach jagte der plötzliche Krach von Gewehrfeuer wie ein Wolkenbruch im Juni alle in die Flucht. Ich nehme zwar an, daß der Waffenstillstand einige Stunden gedauert hat, aber das schienen eher Minuten als Stunden gewesen zu sein. Die Stahljalousien rollten wieder herunter, die Straßen leerten sich wie durch einen Zauberspruch, die Barrikaden waren besetzt und »es« hatte wieder begonnen.
    Ich ging mit einem Gefühl aufgestauter Wut und Abscheu zu meinem Posten auf dem Dach zurück. In gewisser Weise, vermute ich, macht man Geschichte, wenn man an solchen Ereignissen teilnimmt, und sollte sich Rechtens wie eine historische Gestalt fühlen. Aber das tut man nie, denn in diesen Augenblicken überwiegen die körperlichen Einzelheiten immer alles andere. Während der ganzen Kämpfe machte ich keine korrekte

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