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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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abschob. Das hieß aber, man würde sie nach Italien oder Deutschland zurückschicken, wo Gott weiß welche Greuel auf sie warteten. Ein oder zwei ausländische Frauen sicherten ihre Lage schleunigst ab, indem sie einen Spanier »heirateten«. Ein deutsches Mädchen, das überhaupt keine Papiere hatte, entkam der Polizei, indem es einige Tage lang die Mätresse eines Mannes spielte. Ich erinnere mich noch an den Ausdruck der Scham und der Verzweiflung auf dem Gesicht des armen Mädchens, als ich ihm zufällig über den Weg lief, während es aus dem Schlafzimmer des Mannes kam. Natürlich war sie nicht seine Mätresse, aber zweifellos dachte sie, ich glaubte es. Man hatte dauernd das häßliche Gefühl, daß ein bisheriger Freund einen jetzt bei der Geheimpolizei verraten könne. Der lange Alptraum der Kämpfe, der Lärm, der Mangel an Nahrung und Schlaf, die Mischung aus Anstrengung und Langeweile beim Wacheschieben auf dem Dach und die Ungewißheit, ob ich in der nächsten Minute selbst erschossen würde oder gezwungen sein würde, jemand anders zu erschießen, hatten meine Nerven auf das äußerste angespannt. Ich hatte den Punkt erreicht, wo ich jedesmal nach meiner Pistole griff, wenn eine Tür knallte. Am Samstagmorgen ging draußen eine Knallerei los, und jedermann schrie: »Es geht wieder los!« Ich rannte auf die Straße und sah, daß einige Sturmgardisten nur einen verrückten Hund erschossen hatten. Niemand, der damals oder ein paar Monate später in Barcelona war, wird die abscheuliche Atmosphäre vergessen, die das Ergebnis der Furcht, des Mißtrauens und des Hasses war, der zensierten Zeitungen, der überfüllten Gefängnisse, der riesigen Schlangen der nach Lebensmitteln anstehenden Leute und der herumstreifenden bewaffneten Burschen.
    Ich habe versucht einen Eindruck davon zu geben, wie man sich in der Mitte der Kämpfe in Barcelona fühlte. Aber ich glaube nicht, daß es mir gelungen ist, etwas von der Eigenartigkeit jener Zeit zu vermitteln. Wenn ich zurückschaue, erinnere ich mich beispielsweise an die zufälligen Begegnungen, die man damals hatte, die plötzlichen Blicke der Nichtkämpfer, für die die ganze Geschichte einfach ein sinnloser Aufstand war. Ich erinnere mich an die elegant gekleidete Frau, die ich mit einem Einkaufskorb am Arm und einem weißen Pudel an der Leine die Rambla hinunterspazieren sah, während ein oder zwei Straßen weiter die Gewehre krachten und knallten. Es ist denkbar, daß sie taub war. Oder der Mann, den ich über die vollständig leere Plaza de Cataluña laufen sah, wobei er in jeder Hand ein weißes Taschentuch schwenkte. Oder die große Gesellschaft schwarzgekleideter Leute, die eine Stunde lang versuchten, die Plaza de Cataluña zu überqueren, und denen es nicht gelang. Jedesmal, wenn sie aus der Seitenstraße an der Ecke auftauchten, eröffneten die Maschinengewehrschützen der P.S.U.C. im Hotel ›Colon‹ das Feuer und trieben sie zurück. Ich weiß nicht warum, denn sie waren offensichtlich nicht bewaffnet. Ich habe mir später gedacht, daß es vielleicht eine Beerdigung war. Oder der kleine Kerl, der Hausmeister des Museums über dem ›Poliorama‹, der die ganze Geschichte wie ein geselliges Ereignis zu betrachten schien. Er freute sich so, daß die Engländer ihn besuchten, er sagte, die Engländer seien so ›simpático‹. Er hoffte, daß wir, wenn die Unruhen vorbei wären, alle wiederkämen und ihn besuchten. Und tatsächlich ging ich wieder hin und besuchte ihn. Oder der andere kleine Mann, der im Torweg Schutz suchte, seinen Kopf vergnügt in Richtung des höllischen Gewehrfeuers auf der Plaza de Cataluña schwenkte und sagte (als ob er sich über den schönen Morgen unterhalte): »So haben wir also den neunzehnten Juni wieder zurück!« Oder die Leute in dem Schuhgeschäft, die meine Marschstiefel herstellten. Ich ging vor den Kämpfen dorthin, dann nachdem sie vorbei waren und am 5.Mai für ein paar Minuten während des kurzen Waffenstillstandes. Es war ein teures Geschäft, und die Angestellten gehörten der U.G.T. an und waren vermutlich Mitglieder der P.S.U.C. Jedenfalls waren sie politisch auf der anderen Seite, und sie wußten, daß ich in der P.O.U.M. diente. Aber sie verhielten sich vollständig neutral. »Ein wahrer Jammer diese Geschichte, nicht wahr? Und so schlecht für das Geschäft. Was für ein Jammer, daß es nicht aufhört! Als ob es nicht an der Front schon genug von diesen Geschichten gäbe!« und so weiter, und so weiter. Es

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