Mein Katalonien
muß eine Menge Leute in Barcelona gegeben haben, vielleicht war es sogar die Mehrzahl der Einwohner, die die ganze Angelegenheit ohne einen Funken Interesse betrachteten oder mit nicht mehr Interesse als einen Luftangriff.
In diesem Kapitel habe ich nur meine persönlichen Erlebnisse beschrieben. Im nächsten muß ich, so gut ich kann, die eigentlichen Streitfragen beschreiben – was sich wirklich ereignete und mit welchen Ergebnissen, wer recht oder unrecht hatte und wer, wenn überhaupt, verantwortlich war. Es ist so viel politisches Kapital aus den Kämpfen in Barcelona geschlagen worden, daß es wichtig ist, den Versuch zu machen, eine abgewogene Meinung zu gewinnen. Sehr viel ist schon über das Thema geschrieben worden, genug, um viele Bücher zu füllen. Ich nehme an, daß ich nicht übertreibe, wenn ich sage, daß neun Zehntel davon nicht wahr sind. Fast alle Zeitungsberichte, die man damals veröffentlichte, wurden fern vom Geschehen von Journalisten fabriziert. Sie waren nicht nur im Hinblick auf die Tatsachen ungenau, sondern absichtlich falsch. Wie gewöhnlich ließ man nur eine Seite der Frage in eine breitere Öffentlichkeit gelangen. Ich selbst sah, wie jeder, der damals in Barcelona war, nur das, was sich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft ereignete. Aber ich sah und hörte genug, um in der Lage zu sein, vielen der in Umlauf gesetzten Lügen zu widersprechen. Wer nicht an politischen Kontroversen und dem Durcheinander der Parteien und Zweigparteien mit ihren verwirrenden Namen (ähnlich wie die Namen der Generäle im chinesischen Krieg) interessiert ist, sollte, wie weiter oben, die nächsten Seiten überschlagen. Es ist eine scheußliche Sache, sich mit Details innerparteilicher Auseinandersetzungen zu befassen, es ist so, als ob man in eine Senkgrube tauche. Aber es ist notwendig, den Versuch zu unternehmen, die Wahrheit soweit wie möglich festzustellen. Dieser schmutzige Streit in einer weit entfernten Stadt ist wichtiger, als es im ersten Augenblick erscheinen mag.
ELFTES KAPITEL
Es wird niemals möglich sein, eine vollständig genaue und unvoreingenommene Darstellung der Kämpfe in Barcelona zu erhalten, da die notwendigen Unterlagen nicht vorhanden sind. Zukünftige Historiker werden nichts außer einer Menge Anschuldigungen und Parteipropaganda haben, wonach sie sich richten können. Ich selbst habe zusätzlich zu dem, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe oder was ich von Augenzeugen erfuhr, wenig Unterlagen, die ich für glaubwürdig halte. Ich kann jedoch einige der besonders schamlosen Lügen widerlegen und dazu beitragen, die Ereignisse in das richtige Licht zu rücken.
Zunächst also, was geschah wirklich?
Schon seit einiger Zeit war es zu Spannungen in ganz Katalonien gekommen. In den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches habe ich über die Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Anarchisten berichtet. Im Mai 1937 hatten die Dinge einen Punkt erreicht, an dem man einen heftigen Ausbruch als unvermeidlich ansehen mußte. Der unmittelbare Anlaß für die Reiberei war ein Befehl der Regierung, alle verborgenen Waffen abzuliefern. Dieser Befehl erfolgte gleichzeitig mit der Entscheidung, eine schwer bewaffnete, »unpolitische« Polizeimacht aufzubauen, von der die Gewerkschaftsmitglieder ausgeschlossen werden sollten. Die Bedeutung dieser Anordnung war jedem klar. Es war ebenso einleuchtend, daß der nächste Schritt darin bestehen werde, einige von der C.N.T. kontrollierte Schlüsselindustrien zu übernehmen.
Außerdem herrschte unter der Arbeiterklasse ein gewisser Verdruß über den wachsenden Gegensatz zwischen Wohlstand und Armut sowie das allgemeine, unbestimmte Gefühl, die Revolution sei sabotiert worden. Viele Leute waren angenehm überrascht, als es am 1. Mai keine Ausschreitungen gab. Am 3. Mai entschloß sich die Regierung, das Telefonamt zu übernehmen, das seit Kriegsbeginn hauptsächlich von Arbeitern der C.N.T. in Betrieb gehalten worden war. Man behauptete, es werde schlecht geleitet und amtliche Gespräche würden abgehört. Der Polizeichef Salas, der vielleicht seine Anweisungen überschritt, vielleicht aber auch nicht, entsandte drei Lastwagen mit bewaffneten Zivilgardisten, um das Gebäude zu besetzen, während die Straßen draußen von bewaffneter Polizei in Zivil gesäubert wurden. Zur gleichen Zeit etwa besetzten Trupps der Zivilgarde verschiedene andere Gebäude an strategischen Stellen. Was auch die wirklichen Absichten gewesen sein
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