Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
Familie ein geselliges Leben führte, was alle sehr schätzten – außer Sylvia. Was raten wir ihr also? Als ihr Vater sie nach dem Gespräch abholen kam und ich ihm erklärt hatte, was da los war, sagte er: »Ja, die Sylvia, die hat immer gern das Heft selbst in der Hand, die geht gern ihre eigenen Wege – am liebsten allein.«
Kompliment! Ich treffe selten einen Vater, der seine Tochter so gut kennt und wohlwollend ansieht. Also ein Verbündeter. Wir haben vereinbart, dass er in der Schule verlangen wird, dass Sylvia immer dann, wenn sie merkt, dass es ihr zu viel wird, einfach aufstehen und hinausgehen darf und so lang allein bleibt, bis sie merkt, dass es wieder geht, mit anderen zusammen zu sein.
Wenn man so will: ein Kommen und Gehen, ein Da-sein und Weg-sein.
Der Vater braucht vormittags nicht mehr da zu sein und kann seiner Wege gehen. Sylvia kann genauso lang da sein, wie sie es aushält, dann kann sie ein bisschen weggehen (escape heißt flüchten, entkommen), um dann wieder zurückzukommen. Das bildet, wie Sie sehen, genau das ab, was der Körper vorher erzwingen musste. Jetzt aber braucht er weder Sylvia noch die anderen weiter zu stören, weil er bekommt, was er dringend braucht. Mit dem zusätzlichen Profit, dass Sylvia lernt zu merken, wann es ihr bzw. ihrem Körper – eigentlich ja ihrer Psyche – zu viel wird! Denn der Körper arbeitet eng mit der Psyche zusammen und gehorcht ihr. Manche Leute würden an dieser Stelle sagen: Aber so ein Leben, wie das von Sylvia – gute Schülerin, intakte Familie, Freundinnen, genug Geld… –, ist doch ganz normal! Was gibt es da zu klagen? Andere halten das doch auch aus, Patientinnen mit Migräne sagen derlei fast immer. Dann würde ich sagen: Ja, für Sie ist das normal – für Ihren Körper, Ihren Kopf aber nicht.
Bei allen funktionellen Störungen handelt es sich um so ein Muster: Der Körper merkt, dass etwas fehlt, was dringend gebraucht wird, und er schickt eine Störung, die Aufmerksamkeit erregt, damit er Gehör findet. Wenn man psychosomatische Störungen so versteht, braucht man vor ihnen keine Angst zu haben: Man muss sich stören lassen, hinhören, hinschauen und fragen: Was brauchst du, damit du aufhören kannst mit deinen Klagen?
Denn bei diesen Symptomen handelt es sich um mehr oder weniger laute und drängende Klagen und Hilferufe des Körpers an die Person, die in ihm wohnt.
Wenn andererseits der Mensch selbst merken würde, was ihn stört, wenn er sich dagegen auflehnen und etwas ändern würde, und wenn er – was noch wichtiger ist – wüsste, was er dringend braucht, dann bräuchte der Körper diesen Protest nicht zu übernehmen. Im letzten Kapitel, in dem es um den Lebensbogen geht, werden wir sehen, wie wichtig dieser Entwicklungsschritt spätestens in der Lebensmitte eines Menschen ist.
3.Der Organismus ist intelligent – wie ist das zu verstehen?
Der Mensch ist ein komplexes und intelligentes Wesen. Sein Organismus auch. Falls ein Mensch nicht übermäßig intelligent ist, was vorkommt – sein Organismus ist es! Manchmal tut sich der Organismus mit seinem Menschen schwer, nach meiner Erfahrung besonders dann, wenn dieser Mensch sehr intelligent ist. Dieses Rätsel will ich im folgenden Abschnitt auflösen.
Was ist damit gemeint, wenn ich sage: Der Organismus ist intelligent?
Intelligenz bedeutet, am Leben zu bleiben, Probleme zu lösen und sich weiterzuentwickeln – all das kann der Organismus. Er ist mit einer Grundfähigkeit ausgestattet, die es ihm ermöglicht, am Leben und funktionsfähig zu bleiben im Rahmen seiner individuellen Ausstattung. Er hält also eigenständig seine eigene Lebens- und Funktionsfähigkeit aufrecht – bei lebenden Systemen nennt man das Autopoiese. Dafür braucht der Organismus Energie in Form von Nahrung und Schlaf für den Körper und Begeisterung in seinem Gehirn für die Seele. Wenn ich hier und im Folgenden vom Organismus spreche, dann meine ich ein lebendiges leib-seelisches Wesen.
Der Organismus kann zusätzlich auch Störungen (Probleme) von außen und innen kompensieren und Verletzungen reparieren. Das nennt man dann Selbstheilungskraft. Beides zusammen erlaubt es einem Organismus, in mehr oder weniger schwierigen Verhältnissen gesund, d. h. funktionsfähig, zu bleiben und wieder gesund zu werden, wenn er krank ist. Dies gilt für alle Arten von Erkrankungen, die organbedingten und die psychosomatischen und alle anderen, die man nicht eindeutig zuordnen kann bzw. beiden
Weitere Kostenlose Bücher