Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
wehtat.
Das ist das Schöne an psychosomatischen Störungen: Sie wollen einen nicht umbringen. Wenn Sylvia jederzeit und unsystematisch umgefallen wäre, wäre sie gefährdet gewesen, zufällig einmal vor die Straßenbahn zu fallen und überfahren zu werden – da hätten wir besorgt sein müssen! Das Umfallen passierte ihr aber sehr oft, wenn Leute dabei waren: in der Schule, zusammen mit ihren Freundinnen, auch bei Weihnachtseinkäufen mit der Familie: Da lag sie dann, im Kreise ihrer Familie und anderer herumstehender Zuschauer, vor dem Eingang zum Kaufhaus auf dem Boden, bis sie wieder zu sich kam und die Einkäufe weitergehen konnten. Ich beschreibe das so plastisch, damit Sie sich ein Bild davon machen können: So eine Störung stört, unterbricht und ist nicht angenehm. Sehr unangenehm ist sie aber nicht für Sylvia selbst – sie kriegt wenig davon mit. Es stört sie eher, dass es die anderen stört. Wenn sie allein ist passiert das nicht! (Es gibt Psychologen-Kollegen, die an dieser Stelle sagen würden: Genau das ist die Funktion dieser Störung: Das Mädchen will nur auffallen und Zuwendung haben. Vergessen Sie es!) Auf die Frage, was denn für sie der Unterschied sei zwischen allein sein und mit anderen sein , sagte sie: »Mit den anderen, also in der Schule zum Beispiel, das wird mir dann oft zu viel! Das zerrt so an einem herum: Mach dies, mach das, schau hierher usw. Waren Sie schon mal mit Ihrer Familie zu Weihnachten einkaufen? Das ist ganz unmöglich! Da kann ich mich nicht konzentrieren. Auch mit meinen Freundinnen: die eine will dahin, die andere will ganz was anderes – also, das ist nichts für mich.«
Ganz genau: Für andere ist so etwas ganz normal, sogar ganz gut – für Sylvia taugt es nicht. Und weil ihr Körper das merkt, sorgt er zwischendurch mal dafür, dass sie »abschalten« kann – im wahrsten Sinne des Wortes: er schaltet sie ab!
Ich sagte zu ihr: »Pass auf, das ist ein Fall von Eskapismus! Weißt du, was das ist?« Nein, natürlich nicht – was mir die Gelegenheit gibt, es ihr zu erklären.
Dafür erzählte ich ihr eine Geschichte: Einmal saß ich im Zug nach Berlin und mir gegenüber ein Mann, der aus meiner Lektüre haarscharf den Schluss zog, ich müsse eine Psychologin sein – weshalb er mich sogleich um eine Beratung in einem für ihn schwierigen Problem bat. (Solche Beratungen in Zügen sind praktisch: man braucht keine zusätzliche Zeit aufzuwenden, sie kosten nichts, und wenn es nichts bringt, ist auch nichts verloren.)
Dieser Mann war Europa-Abgeordneter und fuhr regelmäßig nach Berlin, wo er diverse Sitzungen leiten musste. Und im mer wieder, während solcher Sitzungen, passierte ihm genau so etwas wie Sylvia: Er war weg (man nennt das einen Blackout). Zwar fiel er nicht vom Stuhl, sein Körper blieb aufrecht sitzen, sodass niemand merkte, dass er gar nicht da war, er selbst natürlich auch nicht. Wenn er dann geistig wieder auftauchte, hatte er ein Problem:
Er wusste nicht, wie lang er »weg« gewesen war und was mittlerweile gesprochen wurde, und traute sich für den ganzen Rest der Zeit keine Frage mehr zu stellen – peinlich für einen Sitzungsleiter! Ich sagte ihm: Das ist ein Fall von Eskapismus! Ihr Gehirn braucht immer mal eine Pause, und die nimmt es sich, wenn die Gelegenheit günstig ist. So eine Sitzung ist eine günstige Gelegenheit, sie ist langweilig, vermutlich sogar unnütz, und das kluge Gehirn merkt das natürlich und ruht sich lieber eine Weile aus – wo es währenddessen hingeht, wissen wir nicht.
Wenn Sie Ihrem Gehirn sonst öfter mal eine Pause gönnen würden oder ihm vor einer solchen Sitzung versprechen würden, dass sie es hinterher in die Sauna begleiten – versprochen ist versprochen! –, dann garantiere ich Ihnen, dass es mit Ihnen zusammen auch langweilige Sitzungen in wachem Zustand durchhält.
»Ach so«, sagte Sylvia, »jetzt verstehe ich, was Sie gemeint haben mit Eskapismus: Ich haue einfach ab!« Ich sagte: »Nein, du nicht, dein Körper!« Sie: »Schon verstanden: ich brauche mehr Alleinsein! Das stimmt übrigens. Ich bin sehr gern für mich. Aber meine Mutter macht sich Sorgen, sie findet das nicht normal. Sie sagt, dass Mädchen in meinem Alter doch unter Leute müssen, ich soll doch öfter mal auf eine Party gehen und so. Aber ich bin lieber in meinem Zimmer und lese. Ich kann das nicht haben, wenn immer so viel los ist.«
Ich erinnere daran, dass Sylvia noch zwei Geschwister hatte, und füge hinzu, dass die
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