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Mein Leben als Androidin

Mein Leben als Androidin

Titel: Mein Leben als Androidin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fine
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nach der anderen traten die Personen und Einheiten aus meiner Vergangenheit herein, um während der langen und anstrengenden Monate, die diese mich in Grund und Boden verdammende Retrospektive in Anspruch nahm, Zeugnis abzulegen und ausnahmslos wider mich, dafür sorgten die Anwälte. Verteidigung und Anklage waren sich einig in ihrem Bemühen, mich als Ungeheuer darzustellen: Erstere entlockte den Zeugen und Zeuginnen Hinweise auf eine eigenständige, wenn auch negative Persönlichkeit; letztere suchte durch geschickte Befragung eine Bestätigung der These verminderter Funktionsfähigkeit zu erreichen. Leute wie Hal von Hals Filiale und die Hart-Pauleys und die Oberin vom Kloster U. L. F. v. U. hatten ihren Tag im Zeugenstand (für manche waren es mehrere Tage), und alle schienen sich meiner recht genau, aber wenig freundlich zu entsinnen.
    Nach der Befragung der ehemaligen Gebieterin Locke und ihrer Tochter Beverly war schwierig zu entscheiden, welche der beiden Parteien die meisten Pluspunkte gesammelt hatte. Die Aussage der Mutter war so raffiniert wie ihr neues Gesicht von I. Magnin. Nur mußte sie sich hüten, allzu unverblümt die Wahrheit zu sagen, um nicht von der Anklage beschuldigt zu werden, den Prozeß zu mißbrauchen, um ihrem Ex-Mann einen Strick zu drehen. Unter Eid bestätigte sie bereitwillig seine widernatürlichen Beziehungen zu mir (schon bei der Scheidungs- und Unterhaltsverhandlung protokolliert) und gab zu, daß die Beziehung durchaus meine Funktionen beeinträchtigt haben könnte, aber im gleichen Atemzug betonte sie, daß ihrer Überzeugung nach das ›hemmungslose Gewächs‹ – es rutschte ihr so heraus – ihn ermutigt hatte und rückblickend nicht weniger schuldig erschien. Dann folgte ein tränenreicher Bericht von der geistigen Verwirrung ihres Sohnes (seither geheilt, Gott sei Dank!), wofür ich gleichfalls verantwortlich war.
    (Jug hatte in ihrem Auftrag mit Präsident Fracass über die Freilassung ihres Sohnes verhandelt und wußte daher von ihrem Versäumnis, die AÜ in Kommerz davon in Kenntnis zu setzen, daß die First Lady ein P9 war, eine Unterlassung, die er ihrem Ex-Mann zum Vorwurf gemacht hatte, in ihrem Fall aber unerwähnt ließ. Man kann nur vermuten, daß auch Dahlia bei ihrer Befragung der Zeugin nicht auf diesen Punkt zu sprechen kam, weil jeder Hinweis darauf aus der ihr überlassenen Kopie des Erinnerungsspeichers entfernt worden war.)
    Was Beverly betrifft – inzwischen eine junge Dame von zarter Konstitution –, war sie damals zu jung gewesen, um entscheiden zu können, ob ich unter eingeschränkter Funktionsfähigkeit litt; alles, was sie wußte und was die Befragung zutage förderte, war, daß sie seelische Schäden davongetragen hatte, als Folge des von meinem skandalösen Verhalten bei Tisch ausgelösten Traumas, das sich als allergische Reaktion auf Hauspersonal äußerte, eine Malaise, die bis zum heutigen Tag anhielt und ihr Leben überschattete. »Wenn man mich nicht heilt«, klagte sie, »werde ich niemals heiraten können. Ich kann die Gegenwart von Dienstboten nicht ertragen und müßte alle Hausarbeit selbst tun. Mein Mann würde vor Scham sterben und ich auch!«
    Das bestimmte den Tenor der nächsten Aussagen. Nicht eine Andeutung für ein freundliches oder großzügiges Verhalten von meiner Seite; kein Wort erwähnte liebevolle oder sympathische Charakterzüge; nicht eine Silbe wurde erlaubt, die ihrem falschen Bild von mir widersprechen konnte. Doch wenn diese brutale EHRABSCHNEIDUNG den Geschworenen und den Gebietern auf der Galerie auch herunterging wie Öl, wurden die Ahnungen, daß die Geschichte meines Lebens noch eine andere Seite hatte, immer stärker und schürten meinen Widerspruchsgeist. Hatte ich niemals geliebt? Etwas in mir antwortete: »Doch!« Besaß ich keine Empfindungen? Wie sonst ließ sich erklären, daß ich mich verletzt fühlte? Ich hatte Tiefe, oder nicht? Woher sonst meine Verachtung für ihre oberflächlichen Methoden? Und ich besaß Integrität: Wie sonst erklärte sich das intensive Gefühl, daß man mir Gewalt antat? Wenn ich die genannten Eigenschaften besaß – Eigenschaften, die in diesem Prozeß geleugnet wurden –, dann war ich vielleicht auch unschuldig, aber nicht in dem von Jug propagierten Sinn, denn ich wollte lieber zur Verbrecherin gestempelt werden, als mich mit der These der verminderten Funktionsfähigkeit abzufinden. (Als Jug sie zum erstenmal erwähnte, war meine Sympathie für ihn erloschen. Ich

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