Menschenfänger
2
Montag, 23. Oktober
»Steffen!«
Die Stimme seiner Mutter drang zwar an das Ohr des 15-Jährigen, erreichte aber nicht sein Bewusstsein. Das war mit wichtigeren Dinge beschäftigt. Zum Beispiel mit der Frage, wie er sich an Marie ranmachen konnte, ohne zum Gespött der anderen zu werden. Marie sah aus wie ein Engel. Ihr langes blondes Haar reichte bis knapp über den Po, und wenn sie beim Gehen mit den Hüften wippte, wurde ihm immer ganz heiß. Er könnte ihr einen kleinen Brief schreiben. Oder war das albern?
Steffen drehte die Musik von ›Sportfreunde Stiller‹ lauter. Den iPod neben sich auf dem Kopfkissen starrte er die Deckenlampe an, als warte er auf eine Eingebung. Es müssten schon ganz besondere Worte sein, überlegte er, nicht so der übliche Quark. Etwas, was Marie wirklich umhaute. Ein Gedicht vielleicht?
Die Tür zu seinem Zimmer wurde schwungvoll aufgerissen.
»Steffen! Los aufstehen!«
Diesmal konnte er seine Mutter nicht ignorieren. Ihre massige Gestalt verdunkelte den Blick auf den sonnenhellen Flur. Das plötzliche Licht blendete ihn, er lag grundsätzlich in einem durch Rollos abgedunkelten Zimmer. Licht brauchte er nur für die Hausaufgaben oder zum Lesen. Und jetzt waren Ferien!
Er seufzte und zog die Ohrhörer raus.
»Ich hab dich nicht gehört. Hast du was zu mir gesagt?«, erkundigte er sich unschuldig.
Die Mutter schnaubte.
»Es ist halb vier! Was ist mit Training?«
»Schon halb vier?«, fragte er ungläubig. So lange konnte er doch gar nicht hier gelegen haben! Steffen stemmte sich hoch und schwang die Beine aus dem Bett.
»Ich geh ja schon! Bin schon fast weg!«
»Nimm den Müll mit runter!«, rief seine Mutter ihm noch zu und verschwand in der Küche.
»Ja«, antwortete er uninteressiert, während er unter dem Bett nach seinen Sneakers suchte. Keine vier Minuten später stürmte er mit seinem Rucksack auf dem Rücken die Treppen hinunter. Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock registrierte er eine Bewegung und entdeckte zwei weiße, dickliche Maden, die sich seltsam windend Richtung Treppe schoben.
»Wo kommen die denn her!«, murmelte er angewidert und rannte weiter.
Als er drei Stunden später vom Training zurückkam, versuchten ungefähr 20 Maden durchs Treppenhaus zu entfliehen. Einige hatten sich dabei allerdings in der Richtung vertan und wanden sich erfolglos an Frau Knabes Wohnungstür hoch. Nach wenigen Zentimetern stürzten sie wieder ab. Andere purzelten bereits vom Treppenabsatz auf die erste Stufe hinunter. Eilig lief Steffen weiter.
»Du hast vergessen, den Müll runterzubringen!«, erinnerte ihn seine Mutter unfreundlich, »Bei den Temperaturen muss der Müll jeden Tag raus. Sonst kriechen hier bald die Maden durch die Küche.«
»Die Frau Knabe muss einen Müllbeutel hinter der Tür vergessen haben. Bei der kriechen die Viecher über den Treppenabsatz. Voll eklig!«
»Was! Na, da werde ich gleich mal bei ihr klingeln. Du bringst in der Zwischenzeit den Müll zum Container!«
Nebeneinander stapften sie die zwei Treppen in die untere Etage hinunter.
Steffen schienen es noch mehr Maden geworden zu sein. Vorsichtig schob er sich an ihnen vorbei von Stufe zu Stufe, um nicht auf eines der Tiere zu treten. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Fantasie ihm ausmalte, wie glitschig es sich anfühlen würde, eine solche Made unter seinem Fuß zu zerquetschen. Er bekam eine Gänsehaut.
»Frau Knabe?!«, Steffens Mutter klingelte und klopfte noch immer, als der Junge von den Containern zurückkam.
»Vielleicht ist sie in Urlaub gefahren. Ich habe sie jedenfalls schon seit Tagen nicht mehr gesehen.«
»Weißt du noch, wann zuletzt?«, fragte seine Mutter, und Steffen konnte hören, dass sie plötzlich besorgt war.
»Montag, glaube ich. Vorletzte Woche.«
Frau Martens drückte ihr Ohr an die Tür, wobei sie sorgfältig darauf achtete, ihre Füße so zu platzieren, dass sie nicht mit den Maden in Kontakt kommen konnten.
»Hast du gesehen, ob ihre Fenster geöffnet sind?«
Steffen überlegte. »Ja, sind offen.«
»Dann ist sie sicher nicht in Urlaub gefahren. Nichts zu hören – nur so ein Rauschen, als ob das Radio ohne Sender läuft. Ich werde mal Frau Just fragen, ob sie was weiß. So kann das hier jedenfalls nicht weitergehen. Das ist ja widerlich!«
Gegen 19 Uhr hatte sich fast die ganze Hausgemeinschaft vor Frau Knabes Tür versammelt und starrte angeekelt auf den wimmelnden Strom. Die Nachfrage unter den anderen Mietern
Weitere Kostenlose Bücher