Mein Leben im Schrebergarten
Zweigen als ihre Nachbarn unter ihnen, und sie gaben ungern nach, wenn man an ihnen zog. Dafür waren sie reifer und saftiger. Je höher eine Frucht hing, desto besser schmeckte sie – diese Erkenntnis kostete mich beinahe das Leben, weil unsere Apfelbäume hoch waren und die Leiter alt und wackelig.
Eigentlich wollte ich nichts mehr über Äpfel schreiben, sondern von meiner Schulklasse erzählen, die sich mitten in der Apfelernte nach einem Vierteljahrhundert des gegenseitigen Verschweigens und Verdrängens plötzlich und beinahe vollständig wieder zusammenfand. Lange hatten wir uns nur im Internet unterhalten, doch die Stimmen, die auf ein Klassentreffen offline bestanden, waren immer lauter geworden. Es musste nur noch der Ort der Begegnung geklärt werden. Russland, Amerika, Israel, Deutschland, Griechenland und Kanada standen zur Wahl. Moskau blieb aber Favorit, weil die meisten meiner ehemaligen Mitschüler noch immer dort lebten. Meine Schulklasse hatte alle russischen Abenteuer der letzten Jahrzehnte mitgemacht. Die Hälfte hatte sich Anfang der Neunziger ins Ausland abgesetzt, die andere Hälfte war in Russland geblieben. Dann kehrte die Hälfte der Auslandshälfte zurück in die Heimat und eiferte mithilfe ihrer neu gewonnenen Erfahrungen den kapitalistischen Errungenschaften des Westens zu Hause nach. Sie gründeten kleine Firmen – Modeboutiquen, Solarien, Kosmetikzentren, Computer-Reparaturwerkstätten –, wurden bodenständig und erfolgreich. Mein ehemaliger Schulbanknachbar zum Beispiel, der vor fünfundzwanzig Jahren Fotos von »Kiss« gesammelt und sich gelegentlich auf dem Mädchenklo in einer Kabine eingesperrt hatte, war inzwischen Opa und hatte einen Möbelsalon. Ein Trivialschicksal.
Nur sehr wenige aus meiner Klasse hatten sich tatsächlich im Ausland eingenistet – schlechte Schüler, Hinterbänkler wie ich. Einer war in San Francisco als Aushilfshausmeister in einem Hippie-Altersheim tätig, ein anderer machte in L.A. Soundchecks bei großen Festivals. Beide waren Ich-AGs mit ungeklärtem Familienstand, und niemand hatte es im Ausland zu einem anständigen Möbelgeschäft gebracht. In der Heimat dagegen hatten fast alle Schulkameraden mit vierzig schon Salons und Enkelkinder. Das ist meiner Meinung nach etwas frühreif – Großvater mit vierzig zu sein. In Deutschland geht dieses Alter gerade noch als das Ende der Pubertät durch. Hier lässt man sich Zeit mit dem Heiraten. Eine solche Entscheidung wiegt schwer, sie muss aus Sicherheitsgründen erst einmal ein paar Jahre lang diskutiert, mit dem Hausanwalt und dem Hausarzt besprochen und mit den zuständigen Behörden geklärt werden, sie muss letztendlich die Prüfung der Zeit überstehen, und wenn ein Paar es dreißig Jahre lang miteinander ausgehalten hat, erst dann ist es hier nicht ausgeschlossen, dass sie einander das Jawort geben und einen Ehevertrag unterzeichen. Die Russen dagegen heiraten auf der Stelle, wenn sie verliebt sind, sie verlieren gern den Kopf. Kaum haben sie sich vom Liebesrausch erholt, schon sind sie Opa.
Vier Schüler aus meiner Klasse sind tot. Zwei hatten sich vor zehn Jahren angeblich zu Tode gesoffen, einer war als Freiwilliger im zweiten Tschetschenienkrieg umgekommen, und einem war ein Stein von einem vorbeifahrenden Zug direkt an den Kopf geflogen.
Während die Toten eher in Frieden gelassen werden wollten, planten die Überlebenden eine große Party. Dieses Klassentreffen stellte ich mir spannend vor, als eine Art Angeberzusammenkunft mit Fotoaustausch. Wir würden in einem Moskauer Restaurant einen <»Klassentreffensaal« mieten und unsere Fotos herumreichen. »Meine Bücher, meine Frau, meine Kinder«, hörte ich mich bereits sagen. Mein Schulbanknachbar wird seinen Stapel Fotos auf den Tisch knallen und siegreich lächeln: »Meine Frau, meine Kinder aus erster Ehe, meine Enkelkinder, mein Möbelsalon, meine Sekretärin und meine Filiale in Donezk.«
Es gab nichts, womit der ausländische Gast diesen Lebensreichtum übertrumpfen konnte. Fast nichts.
Ich zücke meine letzte Trumpfkarte. »Na gut. Aber wir haben einen Schrebergarten in Berlin, wir ernten zwei Tonnen Äpfel pro Jahr.«
Erstaunte Blicke, tosender Applaus.
Einmal hatte ich sogar einen durch die Apfelernte bedingten Albtraum: Meine gesamte Klasse besuchte mich im Garten. Ich stand gerade auf Zehenspitzen ganz oben auf einer Leiter und versuchte, einen unglaublich großen und roten Apfel zu pflücken. Mir war schwindelig.
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