Mein Leben im Schrebergarten
Persönlichkeit, sie kannte alle, und alle kannten sie.
Wir saßen in ihrem Garten und beobachteten, wie der Sommer langsam unterging. Der Wechsel der Jahreszeit war nicht mehr zu ignorieren. Die letzten Blumen in unseren Gärten verloren ihre letzten Blütenblätter, das Obst fiel von den Bäumen, das Mandelbäumchen verwelkte. Dieses unaufhaltsame Absterben der Natur in aller Öffentlichkeit stimmte mich melancholisch. Früher, als Nichtgärtner, hatte ich den Wechsel der Jahrszeiten anders wahrgenommen. Früher war der Sommer zu Ende, wenn die Eisdiele bei uns im Erdgeschoss dichtmachte.
Die Eisdiele unten in unserem Haus war stadtbekannt, wahrscheinlich weil sie dem Zeitgeist so sehr entspricht: Junge Leute machten etwas – nämlich Eis –, statt dem Staat auf der Tasche zu liegen. Beinahe jede Woche kreierten sie da unten neue, noch ausgefallenere Eissorten, um das eisinteressierte Publikum zu verunsichern, aber auch zu fesseln: Wodka-Zitrone-Vanille oder Chili-Minze-Nougat war hier längst eingeführt. Die regionale Presse hatte mehrmals lobend über diese Eisdiele berichtet, und immer mehr Eis essendes Volk sammelte sich unter unserem Fenster. An sonnigen Tagen konnte man keinen freien Platz mehr finden. Die zwei Bänke und vier Stühle, die draußen vor der Eisdiele standen, waren rund um die Uhr besetzt. Von meinem Balkon aus hatte ich den ganzen Sommer lang die Möglichkeit, umfassendes Material über die Gewohnheiten und Vorlieben der einheimischen Eiscreme-Esser zu sammeln, um vielleicht später einmal eine Doktorarbeit über das Thema zu schreiben.
Es gibt in Deutschland drei Arten, Eis zu essen. Am stärksten verbreitet sind die Eislecker – Menschen, die ihr Eis mit großer Sorgfalt konsequent von allen Seiten ablecken. Dabei strecken sie ihre Zunge so weit wie möglich heraus und lächeln ihre Nachbarn an, als wollten sie sie alle zu einer Leckorgie einladen. Die zweitgrößte Gruppe bilden die Eisbeißer – diejenigen, die ihr Eis erst einmal lange anschauen, bevor sie zuschlagen. In der Regel beißen sie gleich als Erstes ein großes Stück ab, dann sitzen sie manchmal sehr lange mit vollem Mund da und schauen ernst, als wollten sie sagen: Dich beiße ich vielleicht auch noch. Die dritte und kleinste Gruppe von Eisessern sind die Fingeresser: Menschen, die ihre Finger oder sogar Nase zu Hilfe nehmen, um mit dem Eis fertig zu werden. Das machen vor allem Grundschulkinder, Rentner und Aktionskünstler. Der Gerechtigkeit halber muss hier aber noch eine vierte Gruppe erwähnt werden, zu der auch ich gehöre: Das sind all die Menschen, die gar kein Eis essen, aber gern auf dem Balkon sitzen und beobachten, wie andere Leute Eis essen.
Unsere Eisdiele ist wie kein anderes Geschäft vom Wetter abhängig. Kaum fängt es an zu regnen, geht das Interesse zurück. Als Erstes verschwinden die Lecker, dann die Beißer, dann die Fingermenschen. Die Bänke draußen werden schließlich gar nicht mehr ausgeklappt, und jeden Tag steht ein Stuhl weniger auf der Straße. Bis eines Tages das Eisdielenfenster geschlossen bleibt, die Reklame abgeklebt und der letzte Stuhl hineingetragen ist. Die Passanten ziehen dann, fast ohne hinzusehen, an der Eisdiele vorbei, und jeder im Haus weiß, es ist aus mit dem Sommer.
Am letzten Samstag im August feierte die Schrebergartenkolonie »Glückliche Hütten« ihr 110-jähriges Jubiläum. Auf der Ankündigung empfahl der Vorstand allen Gartenfreunden, ihre Parzellen sauber zu machen und ordentlich zu schmücken. Mein Nachbar Günther Grass, dessen Superkürbis inzwischen fast so groß wie seine Laube war, schmückte seinen Garten mit roten Luftballons und einer DDR-Fahne. Ich ging sofort ebenfalls Luftballons kaufen. Hundertzehn Jahre – das war ein rundes Jubiläum. Anscheinend gehörte unsere Kolonie zu den ersten in Deutschland, zu den Vorläufern der heutigen Gartenbewegung. Nicht umsonst hatte Herr Krause neulich in seinem Garten einen Pfennig aus der Vorkriegszeit und einen sowjetischen Rubel gefunden, als er nach der Lektüre einer neuen Schliemann-Biographie eine kleine Ausgrabung im Garten vorgenommen hatte.
Ich stellte mir vor, wie sie damals ihre Parzellen geschmückt hatten, welche Fahnen hier schon mal geweht hatten – unter Kaiser, Hitler, Honecker – und was in diesen Gärten möglicherweise noch alles vergraben war. Auch ein Garten kann eine interessante Biographie haben – und dunkle, unaufgeklärte Flecken in seiner Vergangenheit. So wie in jedem
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