Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
Vom Netzwerk:
«Götterdämmerung» und um die dafür nötige physische und psychische Kondition. Der Dirigent ist wie ein Extrembergsteiger, der in immer größere Höhen vorstößt: Er muss sich akklimatisieren, muss sich mit den Dimensionen vertraut machen, sonst kommt er um. Und er muss an die Begehbarkeit seines Gipfels glauben, Schritt für Schritt, Takt für Takt. Dann wird sich herausstellen: Nicht jeder Berg ist gleich der K2 oder der Nanga Parbat.
    Vor allem aber geht es um die innere Disposition, um das Fließen der Kräfte. Das erfordert viel Nachdenken oder besser: Vordenken. Zuhause allein mit der Partitur, in der Garderobe am Tag der Vorstellung und dann am Pult, in den letzten Sekunden, bevor es losgeht. Deshalb bin ich so gerne früh im Theater, damit ich alles noch einmal in Ruhe in meinem Kopf herumschwenken kann. Einzelne Stellen, bestimmte Übergänge oder das Ganze im Schnelldurchlauf. Ich würde es nicht Konzept nennen, das klingt zu starr, zu programmatisch, besser vielleicht: Plan. Ich brauche einen Plan. Ich muss mir genau überlegen, wie ich die lange Unterredung zwischen Wotan und Brünnhilde im dritten Akt der «Walküre» aufbaue und dabei die Spannung halte oder wie ich den Beginn des ersten Akts angehe, ohne selber einen Herzinfarkt zu kriegen. Dieser Beginn ist laut und ein echter Gewittersturm – aber der Weltuntergang ist es nicht und darf es nicht sein. Wissen muss ich das vorher. Und ich kann es vorher wissen, denn solche Dinge sind analysierbar, erklärbar, fassbar. Andere sind das nicht unbedingt.
    Und wie heißt es bei Bertolt Brecht in der «Dreigroschenoper»: «Ja, mach nur einen Plan /sei nur ein großes Licht /und mach dann noch ’nen zweiten Plan /gehn tun sie beide nicht.» Da ist etwas Wahres dran (und Kurt Weill, der Komponist der «Dreigroschenoper», hat Wagner akribisch studiert). Denn erstens geht für den jungen Dirigenten nicht jeder Plan auf, oft nicht einmal jeder zweite Plan. Und zweitens verändern sich Pläne im Laufe des Lebens, bisweilen sogar recht stark. Weil wir uns verändern und in Wagners Partituren immer wieder Neues, Ungeahntes entdecken.
    Der Weg zur großen Form kann sehr steinig sein und ermüdend. Was hat man nicht alles zu beachten! Ich muss von Wagners Jugendwerken vor dem «Fliegenden Holländer» («Die Feen», «Das Liebesverbot», «Rienzi») wenigstens eine Ahnung haben. Ich muss seine zehn zentralen Opern und Musikdramen, vom «Holländer» bis zum «Parsifal», gründlich kennen: Denn diese Stücke reden ja auch alle miteinander und übereinander. Ich muss die Größe und die Akustik eines Opernhauses in Beziehung setzen zur jeweiligen Musik. Ich muss in Farben und in Stimmungen denken können, in Spannungszuständen. All die einzelnen Instrumente und ihre technischen Implikationen muss ich kennen. Ich muss wissen, dass schnelle Stellen, wenn sie langsamer artikuliert werden, etwa bei Sechzehnteln in den Geigen, oft schneller klingen, als wenn ich sie absolut schnell spiele. Ich darf in meinen Tempomodifikationen keine Willkür walten lassen, jedes Ritardando muss gefasst sein und penibel vor- und nachbereitet. Und ich muss, sollte ich in die luxuriöse Verlegenheit kommen, zwischen offenen und gedeckelten Gräben differenzieren lernen. Was da so ausgeruht fließt, steht hier unter Umständen sterbenslangweilig herum. Und umgekehrt: Was in Bayreuth zu schnell ist, weil alles, was nicht mehr klar artikuliert wird, rasch verwischt, kann andernorts brillant klingen.
    Vor allem darf ich mich auf meinem Weg nie zufrieden geben – auch das lehrt Wagners Größe. Ich darf mich nicht selbst genießen, das wäre der Untergang, das Ende. Und ich darf den Druck des Marktes nicht unterschätzen: Wer früh Erfolg hat, wird gehätschelt, zumal im Wagner-Fach. Ein Milchgesicht, das 120 gestandene Orchestermusiker zu Höchstleistungen anspornt, ist eben attraktiver als ein 50- oder 60-Jähriger. Als wäre man mit Ende 20 immer noch ein Wunderkind. Das Publikum jubelt, die Kritiker schwärmen, die Angebote prasseln: Was will ich mehr? Nur darf man sich nicht einbilden, man könne die Karrierespielchen so lange mitspielen, bis man die gewünschte Position erreicht hat – und sich dann wieder dem Eigentlichen, der Arbeit an der Musik und an sich selbst, zuwenden.
    Nur der Ausdruckswille kann einen vor solchen Illusionen bewahren. Ich sehe das oft bei jungen Kollegen: Die wollen bei Wagner immens viel und können es (noch) nicht umsetzen. Das ist ein gutes

Weitere Kostenlose Bücher