Mein Leben mit Wagner (German Edition)
speist sich daraus wie aus einem Quell: Brangäne, die sich sukzessive bis ins Forte steigert und dadurch dem Geschehen wie in einer optischen Projektion näher rückt, obwohl sie in der Szene meist nicht zu sehen ist; der mehr und mehr in Bewegung geratende, zu voller Größe erblühende Streicherapparat (dann ohne Dämpfer); die drei Posaunen, die Wagner für Brangänes «Habet acht!»-Rufe aktiviert; und auch die geteilten Geigen-Soli mit ihren idyllisch-arkadischen Girlanden.
«Tristan und Isolde»: Der Beginn von Brangänes Nachtruf im zweiten Akt
Nicht minder interessant ist, wie Wagner dieses dramatische Fenster wieder schließt. Denn die Liebesnacht von Tristan und Isolde steht erst noch bevor, und die Qualität einer Szene muss sich auch daran messen lassen, wie es weitergeht. «Bald entweicht die Nacht», mahnt Brangäne, «verhallend» steht über ihrem letzten Cis, «morendo», ersterbend, intonieren Bläser und Streicher den Schluss, ein letztes Harfenglissando, ppp , dann Perspektiv- und Tonartwechsel: vom schwermütig-tragischen fis-Moll zum mystischen As-Dur, aus der Grenzenlosigkeit des Raums zurück auf die «Blumenbank», auf der die Liebenden Platz genommen haben. «Immer sehr ruhig», lautet nun die Vortragsbezeichnung, als fürchtete Wagner einen Bruch, wo keiner sein darf. Was sich ändert, ist die musikalische Brennweite: Aus weit wird nah, aus groß wird klein. Zwei Notensysteme lang, zu Isoldes «Lausch, Geliebter!», übernehmen die Streicher allein das Regiment, zärtlich, tastend, als raschelte der Wind durch den nächtlichen Garten. Erst zu Tristans programmatischem «Laß mich sterben!» ergreifen mit einem eruptiven Crescendo auch die Holzbläser wieder das Wort.
Ich könnte lange so fortfahren – nur leider ist noch aus keiner beschreibenden Analyse je Musik geworden. Aber was diese gut 50 Takte auf elf Seiten Partitur verdeutlichen, ist, wie klar Wagner schreibt und wie logisch er sich im Grunde lesen lässt. Sicher gibt es im «Siegfried» kompaktere, vertracktere, «schwärzere» Passagen und im «Parsifal» harmonisch noch kompliziertere, im «Holländer» ist die Lautstärke das Problem und in den «Meistersingern» das deutsche Parlando – kurz: man muss extrem genau hinschauen und hinhören, um Wagners Finesse und Vielschichtigkeit, Klugheit und Witz wirklich zu würdigen. Zuhause, mit den Noten auf den Knien, ist das leicht, Partiturlesen kann man lernen und üben. Im Graben aber brauche ich ein echtes Löwenherz, denn von mir hängt (fast) alles ab. Je größer die Form – das gilt auch für die großen «Sträusse», für «Elektra» oder die «Frau ohne Schatten», für Bruckner-Symphonien ebenso wie für Mahlers Achte –, desto mehr Verantwortung liegt beim Dirigenten. Der Dirigent beziehungsweise der Kapellmeister sollte sich als Stellvertreter oder Mittler des Komponisten begreifen, er ist derjenige, der diesem zu seinem Recht verhilft. Bei Mozart können die Musiker im Graben die Sänger auf der Bühne notfalls auch eigenständig begleiten, sie hören sie ja, sie können einander zuhören. Bei Wagner ist das nahezu unmöglich, seine Dimensionen torpedieren jede Souveränität.
Wie prägt man sich eine Wagner-Partitur ein? Manche Kollegen haben ein fotografisches Gedächtnis, sie blättern beim Auswendigdirigieren permanent innerlich um. Ich blättere auch innerlich um, manchmal, aber ich bin kein Fotograf. Wenn im zweiten Akt «Siegfried» plötzlich alle piano spielen, dann weiß ich, dass bei den Bässen auf der nächsten Seite «sforzato pizzicato» steht. Solche Dinge sollte man wissen, ohne groß in den Noten den Farbstift anzusetzen. Bis ich rekapituliert habe, was dieses rote Ausrufezeichen oder jener grüne Kringel mir sagen wollen, ist es ohnehin meist zu spät. Aus diesem Grund sind die von mir benutzten Partituren absolut jungfräulich. Nicht einmal mit Bleistift schreibe ich etwas hinein. Ich will, dass meine Sinne scharf bleiben: Wer weiß, ob mir bei der nächsten oder übernächsten Vorstellung nicht ein ganz neues Detail ins Auge springt? Das habe ich von Herbert von Karajan gelernt. Diese Freiheit, diese Spannung brauche ich, um musizieren zu können.
Aber wie prägt man sich eine Wagner-Partitur ohne fotografisches Gedächtnis ein? Genau so, wie man Schillers «Taucher» auswendig lernt, 27 Strophen lang: Man baut sich Eselsbrücken, errichtet ein rhythmisches Gerüst, setzt auf einzelne Wörter. Mit Musik geht das viel leichter. Ich
Weitere Kostenlose Bücher