Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Zeichen. Denn es bedeutet: Sie werden danach suchen, ihre handwerklichen und manuellen Fähigkeiten mit ihren Vorstellungen, ihren Ideen in Einklang zu bringen. Freilich ist der Wille zum Ausdruck, die Lust, etwas zu sagen, auch nicht jedem gegeben.
Exkurs: Der Kapellmeister
Wäre der Beruf in Deutschland im Reisepass oder Personalausweis verzeichnet, stünde bei mir nicht «Dirigent», sondern «Kapellmeister». Mit dem Begriff des «Dirigenten» (vom lateinischen «dirigere» = ausrichten, leiten) möchte ich am liebsten nichts zu tun haben. Er reduziert meine Arbeit auf den reinen Autoritäts- und Führungsanspruch. Er verrät die Handwerklichkeit der Kunst. Auch Autofahrer kann ich «dirigieren», in Parklücken hinein oder aus Tiefgaragen heraus. Dennoch hat sich der «Dirigent» im musikalischen Sprachgebrauch eingebürgert, und so komme auch ich nicht ganz um ihn herum. Sehr viel sympathischer ist mir die Bezeichnung «Kapellmeister». Sie verkörpert für mich Tugenden wie Werkkenntnis, hohes Können und Hingabe an die Sache. Im Übrigen meint der italienische «Maestro» gar nichts anderes, nämlich den «maestro di capella»: den Meister der Kapelle. Und warum soll es, solange unsere Orchester «Kapelle» heißen (die Dresdner Staatskapelle, die Berliner Staatskapelle), keine Kapell-Meister geben?
Ursprünglich war der Kapellmeister nicht bloß derjenige, der vorne den Takt schlug, sondern auch Komponist und Arrangeur, außerdem versah er weitreichende organisatorische Aufgaben, dachte sich Programme aus etc. Sein Profil entsprach mehr dem eines Generalmusikdirektors mit Komponierverpflichtung, er versorgte sein Orchester mit allem, was es brauchte. Eine ehrenwerte, anspruchsvolle Profession. Bis heute heißt die Dirigentenausbildung an vielen Musikhochschulen «Kapellmeisterstudium», und darin schwingt etwas von der alten Ganzheitlichkeit mit. Andererseits habe ich nie recht herausgefunden, warum und seit wann der Kapellmeister so in Verruf geraten ist. Denn das ist er. Als «Kapellmeister» bezeichnet man heute im Allgemeinen einen blassen und biederen Taktschläger. Einen Schupo am Pult, einen, der den musikalischen Verkehr regelt, nicht mehr.
Dieser schlechte Ruf ist mir zum ersten Mal in New York begegnet. Da hieß es plötzlich (an den Zusammenhang erinnere ich mich nicht mehr): «Oh, he is only a Kapellmeister.» Ich fragte nach, wie das gemeint sei, und bekam zur Antwort, freundlich übersetzt: Der betreffende Kollege habe kein Charisma. Nun kommen in meinem Berufsstand ganz bestimmt Langweiler vor, keine Frage, und Charisma kann man nicht lernen. Doch warum ausgerechnet dieses deutsche Wort, diese Unterscheidung? Über dem so übel Beleumundeten steht, ausgesprochen oder unausgesprochen, der «Maestro», der «Star-Dirigent». Einer, der vor Inspiration und Phantasie nur so sprüht, der aus jedem Konzert ein Happening macht und sich nach jeder zweiten Vorstellung von Puccinis «Tosca» persönlich von der Engelsburg stürzt. Alles Handwerkliche ist unter seiner Würde – und zwar nicht, weil er darin ein Meister wäre, sondern weil er es nicht nötig hat. Es geht auch ohne, sagt das Klischee, man muss nur die richtigen Allüren mit der richtigen Gel-Frisur paaren und eitel genug herumfuchteln, fertig ist der zähnefletschende Taktstocktiger. Wie unangenehm.
Den Begriff «Kapellmeister» kennt die Musikwelt lange vor 1933. Mit anderen (groß-)deutschen verbalen Exportgütern wie «Blitzkrieg» kann er nicht so leicht in Verbindung gebracht werden. Mit gewissen Stereotypen des Deutschen hingegen schon. «Der Deutsche» ist sozusagen der geborene «Kapellmeister», er ist gründlich, verlässlich, ordentlich, pünktlich, fleißig, bescheiden und pflichtbewusst. Mit dem Nimbus dieser Tugenden wollte man nach 1945 aufräumen und tat dies wiederum so gründlich, dass selbst ein argloses Phänomen wie der «Kapellmeister» unter die Räder geriet. Diese Tendenz verstärkte sich in den Jahren um 1968 herum, begleitet von der fortschreitenden Industrialisierung und Popularisierung der klassischen Musik. Und ehe man es sich versah, ging es, zugespitzt formuliert, immer weniger um sauber erarbeitete, authentische Interpretationen und immer mehr um perfekte Oberflächen, plötzlich zählte statt Handwerk nur noch das Event. Da hatte der «Kapellmeister» naturgemäß schlechte Karten. Ich könnte mir vorstellen, dass unsere heutigen krisenhaften Zeiten dazu angetan sind, dieses Wertesystem wieder vom
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