Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Einerseits ist es anspruchsvoller, die Partitur einer großen Wagner-Oper zu lesen und zu beherrschen als die einer Haydn-Symphonie, schon rein handwerklich, und natürlich baut sich ein Repertoire nach Schwierigkeiten auf. Andererseits wird man, solange man nicht selber Chef ist an einem Theater, kaum in den Wagner-Genuss kommen. Als ich Daniel Barenboim 1981 bei seinem «Tristan»-Debüt in Bayreuth assistierte, durfte ich während der Proben zwar hin und wieder ans Pult, damit er sich das Erarbeitete oben im Saal anhören konnte. Meist aber war er schnell wieder zurück, da nutzte es auch nichts, dass ich auswendig dirigierte, was in Bayreuth reichlich idiotisch ist – es sieht ja keiner. Außerdem war ich dabei heillos nervös.
Während einer «Tristan»-Vorstellung im selben Sommer hatte Barenboim hohes Fieber, und ich wurde gebeten, in Habachtstellung im Graben auf der Treppe zu sitzen. «Ich gehe ab und du dirigierst weiter», sagte er zu mir. Letztlich kam es nicht dazu, und irgendwie war mir das von Anfang an klar. Für ihn aber stellte es eine Beruhigung dar, und mir gab es das Gefühl, so nah dran zu sein an meinem Ziel wie nie zuvor.
Wie aber macht der junge Dirigent auf sich aufmerksam? Indem er fleißig ist und gut arbeitet, indem er möglichst viel repetiert und sich eine gründliche Werkkenntnis aneignet. Aber natürlich muss man auch strategisch denken. Alles andere wäre naiv. Man muss ein bisschen hurenhaft sein können, man muss Angebote annehmen, die einem künstlerisch vielleicht gar nicht so liegen, die einem möglicherweise aber Türen öffnen; man muss musikalische Partner akzeptieren, die dick im Geschäft sind; und man muss sich an allen wichtigen Orten zeigen. Nur – irgendwann müssen diese Zugeständnisse wieder aufhören. Sonst vergisst man sich, sonst verrät man sich. Ich habe das für mich früh als Gefahr, ja als Bedrohung erkannt. Von Georg Solti stammt der Satz, es sei furchtbar schwer hineinzukommen ins Musikgeschäft – aber noch viel schwerer sei es, wieder herauszukommen. Sehr richtig.
Diese Ambivalenz ist auch der Kern der folgenden Geschichte. London in den Sechzigerjahren, der Dirigent Sergiu Celibidache musiziert zusammen mit Daniel Barenboim (als Pianist) und dessen damaliger Frau, der Cellistin Jacqueline du Pré. Man versteht sich prächtig, die Konzerte sind erfolgreich. Eines Tages bestellt «Celi» die jungen Musiker in sein Hotel und unterbreitet ihnen ein Angebot: Sie seien beide so begabt, und aus ihnen könne wirklich etwas werden – wenn sie nach dieser Konzertserie für zwei Jahre sämtliche Engagements stornierten und ihm auf seine Mittelmeerinsel folgten, wo er sie in die tieferen Geheimnisse der Musik einzuweihen gedenke. Die Jungen waren perplex. Am nächsten Tag versuchte Barenboim, dem Maestro klar zu machen, dass er Unmögliches von ihnen verlange. Celibidache schaute Barenboim lange an und seufzte schließlich: «Daniel, du bist eine Hure.» Danach sprach er viele Jahre kein Wort mehr mit ihm. Heute sagt Barenboim, Celibidache hätte Recht gehabt. Trotzdem war der Privatunterricht auf einer einsamen Insel sicher keine Alternative. Es gilt, wie so oft, die Balance zu halten: zwischen Prostitution und Verweigerung, zwischen esoterischen Keuschheitsgelübden und dem Ausverkauf der eigenen Seele.
Doch wie geht nun das heilige erste Mal? Man tritt ans Pult, hebt die Arme – und Wagners Klangfluten umspülen einen, und alle Vorstellungen, die man schon so lange in seinem Kopf hegt, erfüllen sich? Mitnichten. Jeder junge Dirigent hat eine Fülle von Ideen für bestrickende Details. Man fühlt sich so talentiert! Man kann ja solche schönen Übergänge dirigieren! Und wie souverän man dieses oder jenes Problem zu lösen versteht! Ganz falsch ist das nicht, aber vieles, was man sich hinterher noch einmal anhört, passt einfach nicht zusammen. Hier ist man zu laut, da zu langsam, diese Stelle hat man so sehr genossen, und jetzt klingt sie plötzlich fad – kurz: Die Verhältnismäßigkeiten stimmen nicht, das innere Gleichgewicht fehlt. Genau das muss man lernen.
Im Grunde genommen sollten alle jungen Dirigenten möglichst früh Wagner dirigieren, denn nur hier lernen sie den Umgang mit der großen Form. Trainieren kann man das auch bei Beethoven, bei Brahms oder Bruckner, aber den echten Offenbarungseid muss ich doch erst bei Wagner leisten. Dabei geht es natürlich auch um die schieren Längen eines «Tristan» oder einer
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