Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Kopf auf die Füße zu stellen.
Der «Kapellmeister» darf als «Dirigent» scheitern, nicht aber der «Dirigent» als «Kapellmeister». Im ersten Fall fehlt eine Dimension: der Drang zur persönlichen Gestaltung, die originellen Ideen. Im zweiten Fall aber fehlt die Basis, fehlen Stückkenntnis, Theatererfahrung und eine gewisse, nicht zuletzt die eigenen Nerven schonende Routine in der Schlagtechnik. Und schon funktioniert die «Verkaufte Braut» im Mittwochs-Abo C nicht mehr, schon gerät eine Repertoirevorstellung von Mozarts «Figaro» oder Strauss’ «Arabella» böse ins Schwimmen. Die Kapellmeisterei legt das professionelle Fundament. Für alles andere. Auch Richard Wagner hat in Magdeburg als Theaterkapellmeister angefangen.
Bei mir war das Dirigieren immer dann kein Problem, wenn ich ein Werk gründlich korrepetiert hatte. Ich kannte alle Gesangspartien, mir waren die heiklen Stellen klar, und was ich klanglich erreichen wollte, wusste ich ohnehin. Ob mir die Umsetzung dessen gelang und gelingt, war früher eine manuelle Frage und ist heute eher eine mentale. Wie ich dabei aussehe, interessiert mich übrigens nicht. Manche Kollegen – nicht nur die eitlen – «üben» zuhause vor dem Spiegel, um herauszufinden, was wie wirkt. Das würde mich nur irritieren. Anfangs hieß es oft, ich dirigierte unelegant und eckig. Darüber habe ich nie ernsthaft nachgedacht: Ich dirigiere ja in erster Linie, um gehört, nicht um gesehen zu werden (was nicht heißt, dass ich mich vor Publikum nicht auch gerne zeige).
Ich kenne keinen unter den Großen meines Fachs, bei dem nicht beides zusammenkommt: Handwerk und Phantasie, Technik und Aura, das sogenannte Kapellmeisterliche und das Exzentrische, Individuelle. Ich werde nie vergessen, wie mein Lehrer Helmut Roloff nach einer Klavierstunde, in der technisch zwar alles klappte, aber sonst wenig passierte, zu mir sagte: «Überraschen Sie mich!» Ganz sanft, wie es so seine Art war. Ich sehe mich noch am Bahnhof Zoo sitzen und völlig verzweifelt auf die S-Bahn warten. Ich war 15 und hatte das Gefühl, nichts zu können, nie etwas gekonnt zu haben und nie etwas können zu werden. «Spielen Sie langsamer, schneller, lauter oder leiser», sagte Roloff, «spielen Sie, wie Sie wollen. Nur ein Gesicht muss es haben.»
Irgendwann, viel später, habe ich begriffen, was Roloff mit dem Gesicht, dem Überraschtwerdenwollen meinte: Er wollte, dass mein Geist sich an der Musik entzündete. Er wollte, dass ich meiner inneren Stimme vertraute. Alles, was ich gelernt hatte, war nur das Vehikel; Fahrt aufnehmen, fliegen musste ich selber.
Wagner lesen
Richard Wagner hat mich gelehrt, Partituren zu lesen. Ich wollte früh wissen, wie macht er das, wie geht das, wie entstehen diese Klänge, diese ungeheuerlichen Klangmixturen? Musik ist in erster Linie Klang. Erst kommt der Laut, der Ton, die Farbe, dann kommt die Struktur. Auch zeitgenössische Komponisten wie Wolfgang Rihm oder Aribert Reimann, wenn man sie fragt, hören zunächst Farben, ein Timbre, eine bestimmte Konstellation – und dann erst fangen sie an, über die Form nachzudenken. Insofern würde ich nie sagen: «Rhythm is It!», sondern immer: «Sound is it!»
Nehmen wir Brangänes Nachtruf im zweiten Akt von Wagners «Tristan». Isoldes Vertraute, schreibt der Komponist, singt «von der Zinne her, unsichtbar», während die Liebenden im Vordergrund «versinken wie in gänzliche Entrücktheit». Der Takt, bevor Brangäne auf punktierten Halben mit «Einsam wachend» einsetzt, Takt 1210, beschwört für mich so etwas wie die Geburt des Klangs aus dem Schweigen, dem Stillestehen der Welt. Den Widerschein eines fernen Lichtstrahls in der Tiefe der Dunkelheit. Zweifach geteilte Klarinetten plus Bassklarinette, notiert die Partitur, drei Fagotte, vierfach geteilte Hörner, ansonsten kein Blech, dafür lang liegende Akkorde, große Legato-Bögen, einatmend, ausatmend, crescendo, decrescendo , außerdem ein Harfenglissando und Streicher in halber Besetzung sowie con sordino , also mit Dämpfer, das Ganze im doppelten und dreifachen Piano: Das ist die Rezeptur. Man sieht es schon dem Notenbild an, was Wagner im Schilde führt: ein Schwingen zu evozieren, ein Schweben, tönende Luft, selbst bewegt. Wagner, genial wie er ist, geht aber noch einen entscheidenden Schritt über diese Versuchsanordnung hinaus. Die hoch komplexen Bläserakkorde enthalten nämlich bereits sämtliche Harmonien der Szene, das heißt, alles Kommende
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