Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
Vom Netzwerk:
Dinge, die ich nicht mittragen würde, solange der Regisseur mich überzeugt. Pornographie und politisches Agit-Prop-Theater gehören dazu, und vom Geschmack her bin ich sicher mehr auf der dekorativen, verschwenderischen Seite zuhause als bei den Anhängern des ästhetischen Knäckebrots. Vor allem aber wehre ich mich, sobald es der Musik an den Kragen geht. Ein gern zitiertes Beispiel ist hier die Ouvertüre: Der Regisseur will vom ersten Takt an bebildern, der Dirigent protestiert – und schnell zieht er den Kürzeren, gilt als engstirnig und eitel, als altbacken und schwierig. Das Argument, dass Ouvertüren oder Vorspiele traditionell dazu dienen, die Zuhörer auf einen Abend einzustimmen, sie ins Geschehen hereinzuziehen, wird oft gar nicht gehört. Natürlich gibt es Grenzfälle, subtilere und weniger subtile Lösungen. In Götz Friedrichs Berliner «Meistersinger»-Inszenierung von 1995 war während des Vorspiels zunächst ein scheinbar konventioneller Prospekt des mittelalterlichen Nürnbergs zu sehen, der mit der großen musikalischen Steigerung vor Ende dann mit einem Mal durchsichtig wurde und den Blick auf das zerstörte Nürnberg anno 1945 freigab. Darüber konnte man reden. Grundsätzlich bin ich bei Wagner allerdings eher skeptisch, auch aus akustischen Gründen. Es macht einen Unterschied, ob die Musik vor offenem oder geschlossenem Vorhang spielt. Deshalb hat Wagner den Vorhang auch immer mitkomponiert. Der Schluss des «Meistersinger»-Vorspiels etwa verpflanzt den eigentlichen Schlussakkord in die erste Szene: erst das ganz große Brimborium mit Pauke, Triangel und Orgel und dann plötzlich, von einem Takt auf den anderen, wie in einem Filmschnitt, der Choral, «Da zu dir der Heiland kam». Wenn ich den Vorhang hier vorzeitig aufgehen lasse, bringe ich mich um die dramatische Wirkung. Ähnlich verhält es sich beim «Tristan», da steht es in der Partitur, «Der Vorhang geht auf». Takt 106, Celli und Kontrabässe allein und im Pianissimo, sechs düstere Takte später folgen zwei Achtel pizzicato  – und man denkt, jetzt ist das Stück zu Ende. Generalpause. Doch was macht Wagner? Er lässt a capella weitersingen, «West-wärts /schweift der Blick», der junge Seemann «aus der Höhe, wie vom Maste her»! Und auch dieser unerhörte Effekt geht kaputt, wenn der Vorhang nicht mitspielt. Letztes Beispiel: «Lohengrin». Da endet das eigentliche Vorspiel mit einem Streichquartett, silbrig zart, ätherisch, große Fermate; «ohne Pause weitergehen», notiert Wagner klug, bevor im vierten Takt der ersten Szene die sich nähernden königlichen Mannen und ihre Bläser den Vorhang regelrecht beiseitefegen. Kurz und gut: Es ist nicht so einfach, sich der Wagnerschen Dramaturgie zu widersetzen. Man braucht verdammt gute szenische Argumente.
    2015 werde ich in Bayreuth «Tristan und Isolde» dirigieren, Regie führt Katharina Wagner. Die Sängerbesetzung steht fest, ansonsten weiß ich noch wenig über diese Aufführung. Es ist eine unruhige Zeit, in der wir leben – und eine spannende Zeit für dieses Stück. Es passiert permanent so viel, von Fukushima bis zur Finanzkrise, und jedes Mal hat man das Gefühl, die Welt schrammte haarscharf an der finalen Katastrophe vorbei. Noch bleibt ein Rest, der uns weiterleben lässt, ein Trotzdem – wie im «Tristan». Seine Musik ist die Kernschmelze, von der niemand genau sagen kann, wann sie eingesetzt hat und wie weit sie im Inneren des Reaktors bereits fortgeschritten ist. Insofern muss ich die Stellen, an denen es die Partitur tatsächlich zur Weißglut bringt, sehr gut dosieren und disponieren. Wenn alles gleich intensiv ist, vom ersten bis zum letzten Takt, ist nichts intensiv. Wer offenen Auges in die strahlende Sonne blickt, wird geblendet.
    Wie aber könnte das 2015 aussehen, wie kann die Szene solche Intensitäten erzeugen? Von den Fesseln der Aktualisierung hat sie sich weitgehend befreit (was ich mit Erleichterung zur Kenntnis nehme). Heute müssen wir nicht mehr Auschwitz zitieren oder uns Kim-Jong-il-Masken aufsetzen, um zu demonstrieren, dass Wagners Kunstwerke uns in unserer Lebenswirklichkeit betreffen. Wenn ich den «Tristan» mit musikalischer Kernschmelze assoziiere, dann braucht die Bühne dafür keinen Atommeiler – oder höchstens einen ganz kleinen wie in Loriots unvergesslichem Sketch «Weihnachten bei Hoppenstedts».
    Wagner singen
    Die viel beschworene Krise des Wagner-Gesangs ist für mich ein kurzes Thema. Meine Diagnose hierzu:

Weitere Kostenlose Bücher