Mein Leben mit Wagner (German Edition)
erster Linie keine Symbole oder Illustrationen oder Zierrat oder Abstraktionen. Sie alle besitzen eine Psyche, durch diese entstehen Konflikte und damit Einfühlungserlebnisse und Empfindungen des Publikums. Es kann durchaus von großer Wirkung sein, Wagners so menschliche Gottheiten sich im englischen Industrialismus oder im Dritten Reich tummeln zu lassen – aber besser wird das Stuück davon nicht. Wir brauchen keine Parallelen! Die sind sogar direkt störend. Überlassen wir Parallelen und Interpretationen dem Publikum! Wenn Fafner dem Publikum eine Gänsehaut bescheren soll, dann ist es die verdammte Pflicht des Regisseurs, all sein Können für die Erzeugung dieser Gänsehaut einzusetzen. Wenn Siegfried ein Held war, dann muss er als solcher dargestellt werden, so unmodern, undankbar und politisch unkorrekt das auch wirken mag. Wollen wir Wagner, dann wollen wir Wagner. Also stehen wir dazu. Alles andere wäre feige. Wenn Wagner seine Inspiration aus der Zeit der Völkerwanderung bezogen hat, dann muss dies das Dogma sein, unter dem ein Regisseur sich ans Werk macht. Ist Wagners künstlerischer Ausgangspunkt ein Menschenbild, das wir heute nur mit Mühe hinnehmen können, dann muss die Aufführung sich seinen Ansichten fügen: Wagners ‹Ring› in den engen Panzer des modernen Humanismus zu pressen, wäre ebenso irreführend und falsch, wie sich im Klassiker zu suhlen, indem man sich über ihn lustig macht. Wagner hat aus den Mythen einen Mythos geschaffen, und wer sich davor fürchtet, soll die Finger davon lassen.»
Genau das muss gelten, finde ich, wie immer eine Inszenierung aussieht, woher ein Regisseur auch kommt, vom Film oder aus Honolulu. Wollen wir Wagner, dann wollen wir Wagner. Dabei geht es nicht um Unterordnung oder Beschränkung oder «Werktreue», sondern ums Entzünden der Phantasie, um gewisse Reibungen. Wir sollten uns Wagners Œuvre nicht gefügig machen, sondern uns ihm stellen.
Was ich mir mit einem Regisseur, einer Regisseurin wünsche, ist ein atmosphärisch-intellektueller Austausch, ein «Brainstorming», den Sturm der Gehirne. Das stelle ich mir reizvoll vor. Man liest das Libretto, man studiert die Partitur, man hört die Musik – und forscht: Welche Stimmung ruft das in uns hervor? Welche Bilder entstehen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Ein derart freies, frühes Miteinander von Regie und Musik allerdings gestattet der professionelle Opernbetrieb kaum (es sei denn, man kennt sich und legt es darauf an). Als arriviert gilt, wenn der Dirigent bei der Bauprobe dabei ist, dem ersten provisorischen Aufbau des Bühnenbildes, und wenn er das Konzeptionsgespräch vor der ersten Probe mitgestaltet. Als normal hingegen gilt, dass sich der Dirigent zu Probenbeginn kurz zeigt, die Arbeit den Assistenten überlässt und dann zu den Hauptproben wieder erscheint, schätzungsweise eine Woche vor der Premiere. In Bayreuth gelten andere Gesetze, aber international ist das der Alltag. Eigentlich grotesk.
Ich will gar nicht verhehlen, dass wir Musiker von der Dekadenz des Betriebs auch profitieren. Wir sitzen hübsch im Windschatten der Aufmerksamkeit, lassen keine aufreibenden Regieideen an uns heran und machen Karriere. Ich habe tatsächlich davon profitiert. Die Frage ist nur, ob und wann man zu anderen Arbeitsweisen wieder zurückfindet. Der Dirigent muss nicht auf jeder szenischen Probe sitzen; aber er sollte mental, emotional anwesend sein. Ich fürchte, in dieser Beziehung ist in den vergangenen Jahrzehnten von der musikalischen Seite zu wenig gekommen. Mangels Interesse und mangels Imagination. Wenn ein Regisseur mir etwas unterbreitet, muss ich mir das auch vorstellen können . Ich sollte also eine gewisse Übung haben im Visualisieren szenischer Vorgänge, so wie er oder sie lernen muss, musikalisch zu denken und zu empfinden.
Die Realität aber sieht meist anders aus, und sie hat dazu geführt, dass die Dirigenten den Regisseuren das Feld überlassen haben. Manche Auswüchse des sogenannten Regietheaters gäbe es nicht, wenn die Musiker sich stärker partnerschaftlich einbringen würden. Doch jeder soll sich an die eigene Nase fassen. Ich selbst war früher nicht unbedingt regiehungrig. Jetzt aber fühle ich mich bereit zu diesem Dialog. Ich möchte gefordert werden, herausgefordert, inspiriert. Warum sollten sich meine musikalischen Interpretationsansätze nicht auch einmal durch Einsichten, die mir eine Inszenierung beschert, verändern?
Grundsätzlich gibt es wenige
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