Mein Leben mit Wagner (German Edition)
berühmte Windgassen? Den haben wir ganz anders in Erinnerung!»
Mit Martha Mödl (2000)
Meist ist es unfair und wenig produktiv, historische und zeitgenössische Sänger gegeneinander auszuspielen. Astrid Varnay, Martha Mödl und Birgit Nilsson besaßen große Stimmen und überlebensgroße Persönlichkeiten. Doch sie lebten auch fast ein Vierteljahrhundert lang mit ihren Brünnhilden und Isolden, durften in Ruhe an ihnen wachsen. Eine Sängerin wie Gwyneth Jones war 37, als sie ihre erste Brünnhilde sang, und 61, als sie ihre letzte gab. Heute halten sich Sängerinnen in der Partie im Schnitt sieben bis zehn Jahre, und das ist auch eine Folge des gestiegenen Bedarfs: Noch nie wurde weltweit so viel Wagner gesungen wie heute. Alle wollen Wagner, jedes Festival, jedes kleine Haus – und alle haben die gleichen Erwartungen, denn alle hören die gleichen CDs. Wenn früher ein Stadttheater den «Lohengrin» auf den Spielplan setzte, gab man sich, mangels Vergleich, durchaus mit kleineren, nicht ganz so dramatischen Stimmen zufrieden. Heute wird der «Lohengrin» aus der Met weltweit im Kino übertragen, und auch das Publikum in Weimar oder Kleinkleckersdorf akzeptiert eigentlich nur noch Jonas Kaufmann in der Titelpartie.
Hinter jedem Lohengrin, Siegfried oder Wotan, hinter jeder Isolde aber stehen heute zehn andere, die es wissen wollen. Und ist die Stimme mal nicht willig, so braucht man Gewalt: Dann werden Wagners hohe, laute, lange Töne nicht mehr gesungen, mit sauberem Ansatz und einem natürlich schwingenden Vibrato, sondern geschrien, gestoßen und gestemmt. Die berüchtigte «Konsonanten-Spuckerei» regiert. Sie zerstört zwar jeden musikalischen Fluss und jede Linie, kostet aber deutlich weniger Mühe, als an einer individuellen Klangvorstellung zu feilen, an einzelnen Farben und Nuancen.
Über allem Jetset-Gehabe bleibt dann meist auch noch keine Zeit mehr für das übrige Repertoire. Das war früher tatsächlich anders: Eine Lilli Lehmann sang neben Wagners Brünnhilde oder Isolde selbstverständlich Mozarts Königin der Nacht oder Verdis Traviata. Frida Leider hat immer wieder betont, wie wichtig die Beherrschung des Mozart-Fachs für den Wagner-Gesang sei. Und bei René Kollo war es durchaus keine Geschmacksverirrung, wenn er zwischendurch immer wieder Operetten und Weihnachtslieder sang. Er wusste, dass dieser vermeintliche Schmalzkram gut für die Stimme war. Etliche Sängerinnen und Sänger konzentrieren sich heute noch keineswegs auf Wagner allein, sondern halten den italienischen Belcanto, Verdi und Puccini sehr wohl mit im Blick. Grundsätzlich, davon bin ich überzeugt, kostet uns die Spezialisierung mehr, als sie uns bringt.
Im Grunde hilft gegen den Höher-Schneller-Weiter-Fluch unserer Zeit, gegen das Globalisierungsvirus nur das gute alte Ensembletheater, in einer moderaten, abgespeckten Form: mehr zuhause arbeiten, weniger gastieren. Menschen um sich scharen, die einem die Wahrheit sagen und nicht Honig ums Maul schmieren, bloß weil sie die nächste Harakiri-Nummer im Schilde führen: zwei Tage Dubai – und dann mit dem Nachtflug zurück nach Europa, um am Morgen zur nächsten Probe zu hetzen, die Noten hat man sich im Flugzeug kurz angeschaut, den Klimawechsel negiert man. Unter solchen Umständen darf man sich nicht wundern, dass auch die Dirigentenleistungen zu wünschen übrig lassen.
Sänger, so sie keine Rossnaturen haben (was auch vorkommt), sind vor solchen Parforce-Ritten eigentlich gefeit. Wer zu viele Langstreckenflüge in zu kurzer Zeit absolviert, merkt, dass die Stimmbänder austrocknen. Und wie viel Mühe es kostet, zur alten Form zurückzufinden. Insofern ist der Körper ein guter, gesunder Indikator. Der Dirigent hingegen glaubt, dass aus seinem Taktstock ohnehin kein falscher Ton dringt und dass er das bisschen Jetlag oder Rückenschmerzen leicht wegdrückt.
Ich kenne viele traurige Sänger-Biographien, viele tolle Stimmen, viele interessante, intelligente Künstler, die gnadenlos Raubbau an sich getrieben haben. Es ist leicht, das Talent und die Emphase junger Menschen zu missbrauchen. Der Sänger-Markt gilt als Haifischbecken, und wer den Regeln von Fressen und Gefressenwerden nicht gehorcht, steht ganz schnell draußen am Beckenrand. Wer Schwäche zeigt, wer die Maske bedingungsloser Verfügbarkeit fallen lässt, wer absagt, sich verweigert, geht ein hohes Risiko ein. Gerüchte von Krankheit oder Krise machen in Zeiten des weltweiten Netzes schnell die
Weitere Kostenlose Bücher