Mein Leben mit Wagner (German Edition)
kann ich aus vollem Herzen beipflichten. Es sind also nicht nur die Stimmen, die sich verändert haben (ein hochdramatischer Sopran hatte in den Zwanzigerjahren sicher mehr Muße, sich zu entwickeln); die Aufführungspraxis und der Geschmack haben sich ebenfalls gewandelt und die Anforderungen an die Sänger immens gesteigert. Auch optisch übrigens: Früher durften Wagner-Sänger getrost ein bisschen behäbiger sein, eher korpulent als mager, eher Pykniker als Leptosome. Heute lachen wir über einschlägige Theaterfotografien aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren mit Methörnern und Hellebarden – und verlangen Model-Maße. Den Druck in der Branche verringert das nicht.
Dazu haben auch gewisse technische Voraussetzungen beigetragen. Früher waren die Orchester generell tiefer gestimmt, die Standardisierung des Kammertons a1 auf eine Schwingungsfrequenz von 440 Hertz pro Sekunde stammt erst aus dem Jahr 1939. In deutschen und österreichischen Symphonieorchestern sind bisweilen sogar 442 oder 443 Hertz üblich. Für die Orchester bedeutete diese Anhebung der Frequenz einen deutlichen Gewinn an Brillanz. Die Spitzentöne leuchteten und strahlten, das gesamte Klangvolumen wuchs. Auch die Instrumente entwickelten sich in diese Richtung: Die Streicher wechselten von Darm- zu Stahlsaiten, die Blasinstrumente wurden in ihrer Bauweise kräftiger und stabiler. Und je belastbarer ein Instrument ist, desto mehr kann der Musiker ihm und sich auch technisch abverlangen, was wiederum Folgen für die Ausbildung hatte. Kurz und gut: Auf sehr viel besseren, ausgereifteren Instrumenten kann heute sehr viel besser – und lauter – musiziert werden.
Für die menschliche Stimme existiert diese Option naturgemäß nicht. Vom Operngesang wird oft als von einem Hochleistungssport gesprochen, und was die Komplexität der Anforderungen betrifft, ist das sicher richtig. Anders als im Sport aber ist das Leistungsspektrum der menschlichen Stimme nur bedingt steigerungsfähig. Der erste offizielle Weltrekord im 100-Meter-Sprint lag 1912 bei 10,6 Sekunden, der amtierende Weltmeister Usain Bolt benötigt heute nur noch 9,58 Sekunden. Der Musikmarkt hat sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar mächtig professionalisiert, die Ausbildung ist fundierter geworden, die Möglichkeiten, sich zu spezialisieren, haben zugenommen, und was dem Spitzenfußballer der Physiotherapeut ist, das ist dem Starsänger heute der Laryngologe (= Kehlkopfspezialist). Beim Singen aber geht es nicht um messbare Rekorde, um Siege oder Niederlagen, sondern um die Verwandlung von Können, von technischer Virtuosität in Ausdruck. Stimmbänder lassen sich meist nur auf Kosten der Flexibilität und Farbigkeit trainieren oder hochzüchten, und mit einer Bombenkondition allein ist der geistige Horizont einer Wagner- oder Strauss-Partie nicht auszuloten. Das moderne Orchester hat klanglich, spieltechnisch und dynamisch stark aufgerüstet – nicht zuletzt auch, weil das moderne Publikum, das in einer lauten, lärmigen Welt lebt, immer stärkere Reize braucht, um erreicht zu werden. Der moderne Sänger kann solchen Trends nicht wirklich Paroli bieten. Das ist das Dilemma. Und dieses Dilemma kann am Abend letztlich nur der Dirigent lösen.
Unsere Bewunderung für die großen Sänger der Vergangenheit basiert auf Schallplattenaufnahmen. Aber was wissen wir über deren genaue Umstände? Sicher waren Tenöre wie Max Lorenz oder Lauritz Melchior stellare Ereignisse. Lorenz mit seinem stilistisch leicht antiquiert wirkenden, lodernden Espressivo, mit den für ihn typischen «ejakulatorischen Einzeltönen», wie Jürgen Kesting nicht ohne Häme schreibt; und Melchior, der Däne, mit seinem perfekt verblendeten Register, seinem sinnlich leuchtenden, unglaublich virilen Timbre. Nicht nur Melchiors «Wälse!»-Rufe im ersten «Walküre»-Akt, gut und gern bis zu 15 Sekunden lang, sind legendär. Ob beide Sänger allerdings so monströse Stimmen besaßen, wie gerne behauptet wird, möchte ich bezweifeln. Eher zählten hier Tragfähigkeit und Durchschlagskraft, zumal sich die große Röhre in Bayreuth traditionell eher schwertut. Wolfgang Windgassen ist das Paradebeispiel für die Ambivalenz einer Sänger-Wahrnehmung: Auf dem Grünen Hügel galt er in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als einmalig, eine musikalische und darstellerische Intensität wie die seine hatte man kaum je erlebt. In Berlin oder New York aber hieß es oft: «Das ist der
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