Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Es wird zu früh, zu viel und zu oft Wagner gesungen und auch zu viel anderes schweres Repertoire nebenher. Daran sind die Sängerinnen und Sänger selber schuld. Ich halte nichts davon, auf den anonymen Markt zu schimpfen, die bösen Intendanten oder die gierigen Agenten. Und auch nicht auf uns laute Dirigenten. Man macht es sich zu einfach, wenn man behauptet, Kollege X oder Y wolle es bei Wagner richtig rauschen lassen und deshalb spiele das Orchester die Sänger rücksichtslos an die Wand. So etwas kommt vor, das möchte ich gar nicht bestreiten, und gerade die Piano-Kultur bei Wagner ist sicher ein heikles, viel zu wenig beachtetes Feld.
Doch war es jemals anders? In der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 hört man auffällig wenig Beschwerden über den Wagner-Gesang, davor und danach aber sind Klagen an der Tagesordnung. Auch von Richard Wagner selbst: «Kein Zweig der musikalischen Ausbildung ist in Deutschland vernachlässigter und übler gepflegt, als der des Gesangs, namentlich des dramatischen Gesangs. Den Beweis liefert unwiderleglich die außerordentliche Seltenheit vorzüglicher und zu höheren Zwecken verwendbarer Sänger» – so zitieren ihn die «Bayreuther Blätter» 1878. Und in Heinrich Porges’ Erinnerungen an das «Bühnenfestspiel in Bayreuth», die Uraufführung des «Rings» 1876, heißt es gar, dass während der Proben in den Orchesterstimmen «an vielen Stellen die dynamischen Bezeichnungen der Tonstärke» verändert worden seien und «öfter an die Stelle eines Fortissimo ein Forte, an die Stelle eines Forte ein Mezzoforte» rückte. «Dies geschah aus dem Grunde, um vor allem Wort und Ton des Sängers zu deutlichem Vernehmen gelangen zu lassen.» Außerdem dürfe die Kraft der Tongebung nie den äußersten Grad erreichen, das Orchester müsse den Sänger nach den Worten des Meisters vielmehr so tragen «wie die bewegte See einen Nachen», ohne diesen je «in die Gefahr des Umschlagens» zu bringen.
Heute wird auf der Wagner-Bühne viel gebrüllt, und das hat mehrere Gründe, auch das lauter, stärker und brillanter spielende Wagner-Orchester. Trotzdem bleibe ich bei meiner These: Ein Sänger, der sich dadurch ruinieren lässt, muss zuallererst selbst Verantwortung übernehmen. Viele hoch talentierte und berühmte Musiker kennen partout ihre Grenzen nicht. Alles geht heute so flott und so leicht, von Wien nach Tokyo über Chicago und nach London zurück, die ganze elende Reiserei rund um den Globus, und wenn es der Linienflug nicht tut, dann muss eine Privatmaschine her. Ein junger Sänger, der sich permanent überfordert, physisch wie psychisch, mag vom Adrenalin, von seinen Erfolgsendorphinen noch profitieren. Früher oder später aber ruiniert er sein Instrument. Ich warne oft davor, und ich habe immer gewarnt. Schon in Nürnberg hieß es, ich hätte zwei oder drei Sänger an einer Weltkarriere gehindert, weil ich ihnen abriet, ins nächstschwerere Fach zu wechseln oder Partien anzunehmen, die ihre momentanen stimmlichen Möglichkeiten weit überstiegen. Honoriert werden solche Kassandra-Rufe meist nicht, im Gegenteil, aber wer nicht hören will, muss eben fühlen.
Doch wenn so lautstark geklagt wird, frage ich mich auch: Haben wir denn wirklich eine Krise? Wird heute so viel schlechter gesungen als in den Zwanziger-, Fünfziger- oder in den Siebzigerjahren? Ich wäre da vorsichtig. Mit Wolfgang Wagner sprach ich oft über dieses Thema, schließlich hatte er fast alle ganz Großen live gehört. Wir würden uns heute wundern, sagte er, wie die berühmten Stimmen der damaligen Zeit geklungen hätten: viel kleiner, als wir es von Aufnahmen her kennen oder mutmaßen, viel lyrischer. Würden wir heute eine Frida Leider auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses hören, müssten wir die Ohren aufsperren: Neben ihrem charakteristischen Vibrato und der inneren Erregung, mit der sie eine Brünnhilde oder Isolde förmlich aufzuladen verstand, neben ihrer strahlend natürlichen Höhe begegnete uns eine Weichheit in der Stimmgebung, eine Piano-Kultur, die wir von Wagner so kaum kennen. Frida Leider war sich dessen bewusst: «Um die nötige Ausdauer für Wagner zu erhalten und zu bewahren, studierte ich alle Piano-Stellen sehr genau», schreibt sie in ihrer Autobiographie. «Ich konnte daher Wagner ohne Gefahr interpretieren. Auch ist der Wohllaut des Pianosingens für den Zuhörer ein weit größeres Vergnügen, als wenn er den ganzen Abend ein Einheitsforte zu hören bekommt.» Dem
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