Mein Leben mit Wagner (German Edition)
dann «più moto» (bewegter) und zum Schluss «più lento» (langsamer). Das Tempo ist also nicht gleich, es variiert. Der Puls beschleunigt sich und beruhigt sich wieder. Vielleicht bleibt am Ende der dritten Strophe sogar die Zeit stehen, vielleicht hört die Welt auf, sich zu drehen unter all dem turteligen «Er sagt klar /’s ist wahr, ’s ist wahr /Du hast mich lieb!».
Nur wie wird variiert? Ich hatte immer den Impuls, die Langsamkeit des Schlusses, sein Stillestehen schon am Anfang durchblitzen zu lassen. Das ist mit den Sängern nicht einfach, weil der Atem in den langen Phrasen ohnehin leicht knapp wird. Zur dritten Strophe aber hat Lehár eine Orchestereinleitung geschrieben, da funktioniert das wunderbar. Danach ziehe ich das Tempo wieder an, dirigiere durch und werde erst kurz vor Schluss langsamer, recht abrupt, als würde jemand dem Rad der Musik in die Speichen greifen. Und schon habe ich drei Varianten, die absolut spontan wirken und absolut überlegt sind.
Was das mit Wagner zu tun hat? Viel. Erstens ist die Operette (wie die deutsche Spieloper auch, die so schmählich in Vergessenheit geraten ist) eine hervorragende Lehrmeisterin, was das kapellmeisterliche Rüstzeug betrifft. Und zweitens lässt sich an ihr in extenso studieren, was es heißt, das Tempo im Sinne der klassischen Agogik so zu verändern, dass es nicht als Tempoveränderung oder -rückung wahrgenommen wird, sondern als veränderter Ausdruck. Ich bin ein großer Anhänger des tempo rubato (vom italienischen «rubare» = rauben, stehlen), jener raffinierten, im besten Fall unmerklichen Verschiebung des Zeitmaßes, die, schematisch ausgedrückt, die Hauptstimme gegenüber der Begleitung mal voraneilen, mal zurückfallen lässt – und diese «geraubte Zeit» am Ende wieder ausgleicht. Im 19. Jahrhundert genoss die Rubato-Technik keinen besonders guten Ruf. Ignaz Moscheles nannte sie respektlos ein «Ad-libitum-Spielen», das gerne in «Taktlosigkeit» ausarte; Hector Berlioz geißelte ihre «rhythmische Unabhängigkeit»; und sogar Franz Liszt sprach von einem «regellos unterbrochenen Zeitmaß, geschmeidig, abgerissen und schmachtend zugleich». Seriös klingt das nicht, prompt galten einschlägige Interpretationen (wie die Frédéric Chopins) als gefühlig und geschmacklos, affektiert und exaltiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam das Rubato-Spiel dann vollends aus der Mode, und ein gewisser Hautgout haftet ihm bis heute an. Der Grat für den Interpreten mag schmal sein: zwischen Treue und Freiheit, Poesie und Pathos, Geist und Gefühl. Doch warum sollte man auf ihm nicht balancieren können?
In meiner Wagner-Arbeit ist mir der freizügigere Umgang mit den Tempi sehr zugute gekommen, schließlich geht es nicht um die Erfüllung von Metronom-Zahlen. Ein Wagner-Rubato kann durchdacht und von langer Hand geplant sein, es kann sich aber auch erst im Moment ereignen – wenn man’s kann. Nur Skrupel sollte man keine haben. Darf ich, darf ich nicht? Dann ist es meist schon zu spät. Über die vielen Verkehrsschilder, mit denen wir uns heute umgeben, hätten die großen Alten bloß gelacht: Sie haben es oft einfach gemacht. Und es war oft richtig. Diese Gefühlsgewissheit müssen wir uns wieder zurückerobern.
Das gilt auch und gerade für die großen Kulminationspunkte in Wagners Werk. Die Todesverkündigung in der «Walküre» etwa, Brünnhildes «Siegmund! – /Sieh auf mich!» im zweiten Akt, ist extrem heikel, weil die Musik hier erstarrt, ja förmlich gefriert. Die schrägen Akkorde des tiefen Blechs, die entrückten Wirbel der Pauke, viel mehr «Fleisch» gibt es nicht. Als stockte Siegmund, dem Helden, das Blut in den Adern. Das Publikum oben im Saal, die Musiker unten im Graben, alle verspüren ein Würgen im Hals. Die Versuchung, das Getragene, Schicksalsschwere, im wahrsten Wortsinn Pathetische der Musik (von griechisch «pathein» = leiden, mitleiden) zu langsam zu nehmen und Ergriffenheit zu zelebrieren, ist gewaltig. Man darf ihr nicht erliegen, man darf den komponierten Affekt interpretatorisch nicht doppeln, nicht noch draufsatteln, sonst reißt der Spannungsfaden. Was also ist die Lösung? Ein flüssiges, voranschreitendes, leicht rubatöses Dirigat; und innerlich eher tief stapeln als hoch. Richard Wagner waren die Tempi seiner Dirigenten oft zu langsam, wie wir wissen. Nichts anderes hat sein Enkel Wolfgang immer gepredigt: Unbedingt flüssig bleiben, stets einen Tick schneller dirigieren, als der Bauch
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