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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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Runde – und es ist extrem schwer, sie zu widerlegen. Dann hat man seinen Stempel weg, gilt als anstrengend oder «schwierig». Ich weiß sehr gut, was das heißt.
    Wer im Wagner-Fach reüssieren will, sollte dies trotzdem vorsichtig und langsam tun, gerade wenn aus vielen Richtungen lukrative Angebote winken. Um den Versuchungen des Geschäfts zu widerstehen, braucht man ein Leben, das ist meine Überzeugung. Ein Leben jenseits des Theaters, des Betriebs und der Hotelzimmer; Wurzeln, ein Zuhause, Freunde. Sonst hat man eines Tages nichts mehr zu sagen.
    Wie meinte Richard Wagner? «Die menschliche Stimme ist die Grundlage aller Musik.»
    Wagners Musiktheater funktioniert, was all die viel beklagten Symptome angeht, wie ein Vergrößerungsglas: Tendenzen des Marktes, Fehler des Betriebs schlagen in einem so hoch exponierten Bereich nicht nur schneller, sondern auch gravierender zu Buche. Das Wagner-Theater ist der Geigerzähler der Branche. Noch haben wir es ganz gut in der Hand, denke ich, nach welcher Seite sein Zeiger ausschlägt. Es heißt, jede Zeit habe den Wagner-Gesang, den sie verdient. Zufriedengeben dürfen wir uns damit nicht.
    Interpretation
    Ich habe den Dirigenten Otmar Suitner immer sehr bewundert. Ein Tiroler in Dresden, Bayreuth und Berlin. Der Mann mit den zwei Familien, eine in Ost-Berlin, eine im Westteil der Stadt (sein Sohn Igor Heitzmann hat darüber 2007 einen anrührenden Film gedreht). Am meisten aber interessierte mich, dass Suitner ein Kapellmeister spätromantisch-«deutscher» Prägung und alter Schule war. Ich erinnere mich an eine «Meistersinger»-Vorstellung in der Berliner Staatsoper Unter den Linden in den Siebzigerjahren, da muss Suitner etwa so alt gewesen sein wie ich heute. Die Leute im Zuschauerraum standen bereits auf den Stühlen, als er noch auf dem Weg ans Pult war. Die Atmosphäre knisterte. Und was machte er, kaum dass er am Pult angekommen war? Setzte sich hin, zückte ein Taschentuch, betont umständlich, nahm seine Brille ab, hauchte sie an und begann sie zu putzen. In aller Seelenruhe, ganz genüsslich! Vor dem Publikum, vor dem versammelten Orchester! Alle waren baff. Irgendwann setzte er die Brille dann wieder auf, schaute so herum, ach, da ist er ja, der Taktstock – und fing an. Vorspiel! Der Wahnsinn in C-Dur! Das Ganze dauerte eine gefühlte Ewigkeit, die Spannung kroch einem bis in die Haarspitzen hinein.
    Diese Nervenstärke besäße ich gerne. Die Kraft, mir vor einem so langen, schwierigen Stück innerlich noch einmal die Brille zu putzen. In den Sekunden, bevor es losgeht, stelle ich mir immer das Ende vor. Ich sitze am Pult, schließe die Augen und konzentriere mich auf die letzten zwei, drei oder vier Takte des Abends. Erst dann fange ich an. Erst dann weiß ich, wohin ich will und muss. Vielleicht ist das meine Art des Brilleputzens.
    Wer Otmar Suitner einen Kapellmeister nennt, einen «deutschen» obendrein, meint das nicht unbedingt nur nett. Der hat auch den Verkehrspolizisten am Pult im Visier, der regelt, was zu regeln ist, und sich künstlerisch nicht weiter aus dem Fenster lehnt. Abgesehen davon, dass ich solchen Klischees wenig abgewinnen kann (im Falle Suitners und seiner kernigen, höchst luziden «Meistersinger» schon gar nicht), bringt mich das zur Frage der musikalischen Interpretation. Was ist eine Interpretation? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Was darf der Interpret, was darf er nicht, und wer urteilt darüber? Interpretation ist, was extrem sein will, sagt der aktuelle geistige Hausgebrauch. Interpretation ist Anderssein um (fast) jeden Preis. Kurz: Interpretation ist das nackte Gegenteil von Kapellmeisterei. Eine Beethoven-Symphonie ohne Vibrato zu spielen, gilt per se als «starke» Interpretation, schließlich hat man es so noch nie gehört (ganz gleich, ob die Ideologie des «reinen Tons», die dahinter steckt, bei Beethoven angebracht ist oder nicht). Den ersten Akt von Wagners «Parsifal» mit über zwei Stunden anzulegen, wie Arturo Toscanini es 1931 in Bayreuth tat, zeigt ebenfalls eine «starke» Handschrift (die lähmenden Längen dieser Lesart möchte ich mir allerdings lieber nicht vorstellen). Böse formuliert: Eine Interpretation ist oft das, was auch derjenige, der keine Ohren hat, als Interpretation wahrnimmt.
    Für mich drückt sich in einer Interpretation der künstlerische Wille aus. Sich eine Musik so zu eigen machen, dass sie einem zur «zweiten Natur» wird, darin besteht die Arbeit des Interpreten. Als

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