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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Thielemann
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erstes darf ich nicht nach der großen Wirkung fragen, sondern muss einen kapellmeisterlichen Grund legen, den einzelnen Parametern gerecht werden: dem Notentext, der Raumakustik, den verschiedenen Klangkörpern. Wem das Ergebnis schließlich warum einleuchtet oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Aber das «Gesicht», das mir ein Dirigent zeigt, so es musikalisch auf einem seriösen Fundament ruht, habe ich zu respektieren. Bei René Jacobs’ Einspielung von Mozarts Jupiter-Symphonie etwa sträuben sich mir an vielen Stellen die Nackenhaare. Diese Interpretation nimmt Mozarts symphonisches Vermächtnis so strikt beim Wort, dass vom Vermächtnischarakter am Ende kaum etwas übrig bleibt. Jacobs dirigiert nicht das Pathos eines opus ultimum , sondern die Fülle von Mozarts rhetorischer Erfahrung. Die Idee ist hoch interessant – und wenngleich es sicher nicht die meine ist, so erkenne ich doch den Gestaltungswillen an, der sie hervorbringt.
    Der Begriff der Interpretation kommt aus dem Lateinischen und meint Auslegung, Übersetzung oder Erklärung, das kann sich auf eine Bibelstelle ebenso gut beziehen wie auf einen Gesetzesparagraphen. Der Begriff der musikalischen Interpretation hingegen meint zunächst die Aufführung. In dem Moment, in dem der Dirigent die Partitur aufschlägt (und seine Brille putzt beziehungsweise die Augen schließt), beginnt die Interpretation. Es gibt keinen Einsatz, keinen Auftakt, keine Fermate, kein Tempo, keinen Dreivierteltakt und kein Fortissimo, das im Moment des Erklingens nicht bereits interpretiert wäre, ausgelegt, übersetzt, erklärt und somit in einen individuellen Zusammenhang gerückt. Das fängt beim eigenen Körperbau an.
    Bei Dirigenten-Komponisten wie Wagner, Mahler oder Strauss wimmelt es in den Partituren nur so von Vortrags- und Spielanweisungen, die kannten ihre Pappenheimer. Aber macht das die Lektüre eindeutiger, einfacher? Und tun wir uns mit Bach wirklich schwerer, weil in seinen Noten nichts dergleichen zu finden ist? Im Detail sicher ja. Mit der Frage nach dem richtigen Tempo für einen Choral wie «Ich steh an deiner Krippen hier» aus dem Weihnachtsoratorium steht der Dirigent in der Tat ziemlich allein da. Das Tempo muss sich aus den Rezitativen davor und danach ergeben, ja im besten Fall erwächst es aus der rhetorischen Spannungskurve der gesamten Kantate. Nichts leichter als das, nichts schwerer als das! Bei solchen Ermessensfällen denke ich immer an die «Meistersinger». Wo verläuft die Grenze zwischen Freiheit und Willkür, wo diejenige zwischen Text- und Buchstabentreue? Stolzing fragt: «Wie fang’ ich nach der Regel an?» – und Sachs antwortet fast lakonisch: «Ihr stellt sie selbst, und folgt ihr dann.» Der Interpret ist sein eigener Souverän, sagt Wagner und bringt so das Geheimnis der Interpretation auf den Punkt. Einen Freibrief stellt er damit niemandem aus.
    Vor jeder Interpretation steht naturgemäß die Analyse, das Nachdenken. Vor der ersten Probe sollte der Dirigent versuchen, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Was liegt mir in dieser oder jener Musik am Herzen, was ist mir wichtig? Stellen sich vor meinem inneren Auge Bilder ein, die mich leiten, habe ich bestimmte Assoziationen? Kenne ich die musikalischen und emotionalen Höhepunkte? Die Klippen? Wie bewältige ich die Übergänge, und in welchem Verhältnis stehen das erste und das zweite Tempo zueinander? All diese Fragen wollen beantwortet sein, und am Ende ergibt sich daraus eine große Melange. Oft fühle ich mich in dieser Situation wie in einem Traum, in dem die Dinge auf mich zu rasen und wieder verschwinden, mal gestochen scharf sind, mal verschwommen. Das vegetative Nervensystem einer Partitur zu erfassen, es sinnlich zu begreifen, ist das eine, das Naive, wenn man so will. Es mit der Analyse, dem eigenen Wissen über Musik zu konfrontieren, ist das andere, das Sentimentalische. Die Verbindung von beidem ist der Beginn der Interpretation.
    Meine Ideen kommen mir oft bei der Probe. Es ist eine Frage der Vorbereitung und des Mutes, eine Idee dann auch umzusetzen. Häufig ahne ich vorher, dass an dieser oder jener Stelle etwas passieren wird, ich weiß nur nicht genau, was. Bei dem Duett «Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen» aus Franz Lehárs «Lustiger Witwe» beispielsweise gehört die erste Strophe Graf Danilo, die zweite singt Hanna Glawari, und in der dritten Strophe finden beide zueinander. «Valse moderato», schreibt Lehár zu Beginn, später

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