Mein Leben mit Wagner (German Edition)
gleich viel weniger exzessiv. Immerhin dauert die «Orestie» von Aischylos, vollständig aufgeführt, gut zehn Stunden, Goethes «Faust» (beide Teile), auf der Expo 2000 in Hannover von Peter Stein inszeniert, brauchte gar satte 22 Stunden. Dagegen nimmt sich eine «Götterdämmerung» regelrecht bescheiden aus.
Die Botschaft
Bei Wagner geht es immer um Macht und Liebe, um Macht oder Liebe. Wotans Reich zerfällt, weil seine Tochter Brünnhilde das Gesetz des Göttervaters bricht und er sie bestrafen muss; König Markes Plan, Isolde zur Frau zu nehmen, um zwischen Cornwall und Irland dauerhaft Frieden zu stiften, scheitert an einem Zaubertrank; und Elsa von Brabant wird zwar rehabilitiert, indem ihr verschollen geglaubter Bruder Gottfried, der rechtmäßige Herzog von Brabant, wieder auftaucht, bezahlt dies aber mit dem Verlust Lohengrins. Wagners Helden kommen gerne von außen beziehungsweise von oben, und das hat Programm: So ganz erklären kann man all diese Schwanenritter und in Ewigkeit verdammten Seefahrer und reinen Toren nämlich nicht. Wer sie sind, was sie wollen, wohin sie am Ende gehen, das bleibt oft mystisch und mirakulös. Wichtig scheint mir zu sein, dass sie wie Katalysatoren wirken. Sie setzen Veränderungen in Gang, legen Konflikte frei, lösen die Gemeinschaft aus überkommenen Regeln und Ritualen, brechen Tabus. Sie alle sind Alter Egos ihres Schöpfers Richard Wagner, sie verkörpern seine Künstlerseele – einer wie Stolzing vielleicht mehr deren bürgerliche Seite, einer wie Parsifal mehr deren religiöse. Der Künstler, sagt Richard Wagner, ist der einzige, der die Welt von sich selbst erlösen kann. Indem er mit seiner Kunst und durch seine Kunst eine Gegenwelt erzeugt, seine eigene Metaphysik, eine Art second life – oder jedenfalls die perfekte Illusion, dass es so etwas geben könnte.
Der Anspruch, den Wagner damit formuliert, ist selbstverständlich monströs. Der Bayreuther Meister häkelt keine Tischdecken und führt uns keine kleinen Lustspiele vor, sondern spricht lieber von der Erschaffung der Welt. Er spielt Schöpfer, von Anfang an. In letzter Konsequenz heißt das aber auch, und so habe ich diese Monomanie immer verstanden: Diese Kunst ist menschlich. Sie ist von einem einzelnen Menschen gemacht. Der Wagnersche Künstler folgt keiner göttlichen Eingebung oder Gnade und erst Recht keinem politischen Programm, sondern einzig und allein seiner Inspiration. Mit diesem Credo balanciert Richard Wagner auf der Scheide zwischen Romantik und Moderne, zwischen Märchenerzählung und Psychoanalyse. Er ist einer der letzten, die glaubhaft das Überirdische bemühen – und einer der ersten, die tief an unser Unter- und Unbewusstes rühren.
Wagner geht an Grenzen. Seine Musikdramen strotzen nur so vor Mord und Totschlag, Inzest, Rache, Verrat, Unzucht, sexueller Hörigkeit, alles höchst unschöne Dinge. Und trotzdem geht man hinterher nach Hause und fühlt sich gestärkt. Weil man seine Ängste auf Wotan & Co. projizieren kann; weil man lernt, wie das Leben spielt; und weil es bei Wagner immer weitergeht. Was ist denn am Schluss der «Götterdämmerung»? Da geht erst die Welt in Flammen auf – und dann beginnt alles wieder von vorne. Vor der Gibichungenhalle brennt es, Brünnhilde hat dem toten Siegfried zu Ehren eine Fackel geworfen, doch mit einem Mal bricht das Feuer zusammen und Wagner schreibt: «der Rhein ist vom Ufer her mächtig angeschwollen, und wälzt seine Flut über die Brandstätte bis an die Schwelle der Halle.» Der Weltenbrand löscht sich, als trügen die Naturgewalten den Konflikt untereinander aus. Und wer weiß, vielleicht springt auch Brünnhilde mit Grane, ihrem Ross, nur durch das Feuer, um sich drüben im Wasser Abkühlung zu verschaffen? Alberich jedenfalls, der «Schwarzalbe» und Zwerg, überlebt und die Rheintöchter sowieso – und plötzlich ist die Situation wieder genau so wie 14, 15 Stunden zuvor «auf dem Grund des Rheins», zu Beginn des «Rheingolds».
Banal ist diese Botschaft nicht. Sie formuliert keine ästhetische Durchhalteparole, von wegen ‹das Leben geht weiter, trotz aller Scheußlichkeiten, macht euch keine Sorgen›. Nein, es steckt eine große Aufforderung und Herausforderung darin. Bei anderen Opernkomponisten mag die Katharsis wie in der griechischen Tragödie arbeiten: erst Jammer, dann Schauder, und wenn Tosca schließlich von der Engelsburg springt oder Aida und Radames lebendig begraben werden, dann setzt die
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