Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Gefühl, alles fließt weg, und die Musiker spielen, als stünden sie mit einem Bein auf der Hohen Warte (der Klinik oberhalb des Festspielhügels). Das Spartanische und das Psychedelische, das Analytische und das Atmosphärische, Nebel und Durchblick: Das eine ist niemals ohne das andere zu denken, so lautet Wagners Botschaft. Seine Interpreten mögen so verschieden sein, wie Musiker, Dirigenten nur verschieden sein können: geborene Analytiker, die es verstehen, den Nebel zuzulassen; Enthusiasten, die lernen, sich emotional zu zügeln; Handwerker, die inspiriert aufblühen; Aufführungspraktiker, die gegen ihre Überzeugung von der Klangmagie kosten. Solange sie alle, wir alle bereit sind, innerlich ein Stück in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, werden wir auf das Unvorhergesehene stoßen, bei Wagner, bei uns selbst. Und neue, funkelnde, zukunftsträchtige Ideen haben.
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Geld oder Liebe:
Wagner für Anfänger
Nur keine Angst!
Viele Wege führen zu Wagner, und ganz mühelos ist wahrscheinlich keiner. Aber muss denn immer alles leicht und gleich und sofort sein? Wagner to go gibt es nicht, Wagner muss man schon wollen, in Wagner muss man investieren: Zeit, Geduld und Konzentration. Drei Argumente mehr für ihn! Denn wer die Mühe auf sich nimmt, wird reich belohnt. Der begegnet fremden, bizarren Welten, starken Frauen, bösen Wichten und traurigen Helden. Der lernt sich gleichzeitig selber kennen und vergessen.
Im günstigsten Fall werden die ersten Wagner-Köder sicher im Elternhaus ausgelegt. Oder in der Schule: Ein einziger guter (oder miserabler) Musiklehrer entscheidet oft über ein ganzes Leben mit oder ohne klassische Musik, mit oder ohne Wagner. Das heißt nicht, dass es einen nicht auch später noch erwischen kann. Eine Übertragung im Fernsehen, ein Public Viewing auf dem Bayreuther Volksfestplatz, «Oper für alle» in München oder in Berlin, ein Arbeitskollege, der sein Abo kurzfristig nicht wahrnehmen kann – es gibt viele Gelegenheiten. Man muss nur bereit sein, es auch zuzulassen. Immer wieder gibt es Geschichten wie die von der Verkäuferin im Supermarkt um die Ecke, die eine Opernkarte geschenkt bekommt, nicht weiß, wie ihr beim «Lohengrin»-Vorspiel geschieht und fortan von der Oper und von Wagner nicht mehr lassen kann. Darüber freue ich mich dann.
Will man sich Wagner systematisch erschließen, wird man wahrscheinlich als erstes einen der gängigen Opernführer konsultieren. Einsteigern würde ich den mit großer Empathie geschriebenen von Attila Csampai und Dietmar Holland empfehlen (der unter www.opernfuehrer.org auch online zugänglich ist). Fortgeschrittene können, wie der Name schon sagt, zum «Opernführer für Fortgeschrittene» in fünf Bänden von Ulrich Schreiber greifen, der über den einzelnen Werken einen weiten Horizont aufzieht.
Man sollte sich aber auch nicht scheuen, zu den Quellen zu greifen. Wer keine Noten lesen kann, wird es vielleicht nicht ausgerechnet mit Wagner lernen wollen. Aber es gibt ja noch das Libretto, das Textbuch, und wenn es stimmt, dass Wagners Theatertexte eine Vorstufe zu seiner Musik darstellen, eine Klangsprache im wahrsten Sinn des Wortes, dann kann man beim sorgfältigen Lesen viel mehr erfahren als nur die Handlung. Und man wird froh sein, wenn man sich vor einer Vorstellung mit dem Text einigermaßen vertraut gemacht hat, denn wenn es am Abend losgeht, beginnen auch die potenziellen Strapazen. Das Publikum soll zuhören, zuschauen, kombinieren und alles verstehen, den Text, die Aussage, die Interpretation des Regisseurs, die Interpretation des Dirigenten, das Ganze in epischen Längen von vier, fünf oder sechs Stunden. Ziemlich viel auf einmal.
Ich werde oft gefragt, warum Wagners Opern eigentlich so lang sein müssen. Ganz erklären kann ich es offen gestanden nicht, abgesehen davon, dass ich persönlich keine Note missen möchte. Der erste Akt «Götterdämmerung»: zwei Stunden! Der erste Akt «Parsifal»: zwei Stunden! Die Urfassung des «Rienzi»: sieben Stunden! Das sind ganz schöne Zumutungen. Aber Richard Wagner wollte mit seinen Musikdramen eine Welt erschaffen, und dafür reichen homöopathische Dosen gewöhnlich nicht aus. Er will Besitz ergreifen von seinem Publikum, will in dessen Leben Spuren hinterlassen. Das gelingt ihm über die Intensität des Dargestellten, aber auch über die schiere zeitliche Länge. Und wenn man an die alten Griechen oder die deutschen Klassiker denkt, erscheint einem das Wagner-Theater
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