Mein Leben mit Wagner (German Edition)
es zunächst will. Diesen Tick zu erspüren, ist ein wichtiger Teil der Wagner-Interpretation, nicht nur in Bayreuth.
Um sich als Interpret ein eigenes Bild von Wagners Werk zu machen, sollte man es studieren wie eine Sprache: Vokabeln, Grammatik, Syntax, Etymologie, Wortwahl, Ausdruck, Idiomatik – alles gehört dazu. Natürlich taugt das Interpretationsbesteck des «Fliegenden Holländers» nicht für das «Rheingold» und das der «Götterdämmerung» kaum für die «Meistersinger». Gewisse Verwandtschaften und Bezüge aber lassen sich fest- beziehungsweise herstellen. Die berühmt-berüchtigte Leitmotivtechnik etwa (Wagner selbst sprach lieber von «Erinnerungsmotiven») zieht sich fast durch das ganze Werk. Während sie im «Holländer» noch roh und ungeschlacht daher kommt, begegnet sie einem im «Rheingold» in geradezu narkotischer Verfeinerung. Das Netz von Motiven, das Wagner hier auswirft, ist reich und glitzernd – so glitzernd wie das Schuppenkleid der Rheintöchter, die den «Ring» im «Rheingold» eröffnen und in der «Götterdämmerung» beschließen. Alles hängt hier mit allem zusammen, oft sind es nur Nuancen, die die einzelnen «Gefühlswegweiser» (ein anderer Ausdruck Wagners) kompositorisch voneinander unterscheiden: das Walhall- vom Schicksals- vom Schwertmotiv, das emphatische Liebesmotiv von Brünnhildes heroisch-empfindsamer Kennung.
Wie die Natur ist die Kunst unerschöpflich, sagt Schiller. Wenn ich vergleiche, was ich heute in den vier Partituren des «Rings» sehe und höre und wie wenig ich bei meinem «Ring»-Debüt 1998 an der Deutschen Oper Berlin hörte und sah, kann ich diesen Satz nur mit Herzblut unterschreiben. Mit zunehmender handwerklicher und musikalischer Reife aber bildet sich bei einem Dirigenten ein persönlicher Stil heraus, ein Musizierduktus. Man entdeckt Vorlieben, man entwickelt seine Sprache, sein Repertoire, man legt sich fest. So wie Coco Chanel eines Tages das kleine Schwarze erfunden hat, so findet der Dirigent, wenn er Glück hat, zu seinem Ausdruck. Und trifft Interpretationsentscheidungen fürs Leben. Eine bestimmte Klangvorstellung, eine Idee von Homogenität, eine innere Musik – und letztlich das Wagner- oder Bach- oder Mahler-Bild, das an seine Seele rührt.
Meinen Wagner-Interpretationen wird gerne etwas Schwelgerisches, Überbordendes unterstellt, ein Ausufern. Das ist nicht falsch, und natürlich schmeichelt es mir: Wer wagt heute noch das Volle, Ganze, wer bestellt den Braten noch mit richtig viel Sauce? Der Mensch des frühen 21. Jahrhunderts ist ein Virtuose der Nahrungsergänzungsmittel – und das gilt (leider) auch für die Musik. Was mein Wagner-Bild betrifft, ist das Üppige und Luxuriöse allerdings nur die halbe Wahrheit: Der größte Bogen taugt nichts, wenn er keine Spannkraft besitzt. Eine überzeugende Summe lässt sich nur aus überzeugenden Details ziehen. Das Wagnersche Musikdrama, das nur pathetisch wäre oder vollfleischig (wie es das Klischee gerne will), existiert nicht. Wagner war ein Wirkungsmagier, er wusste, dass ein Dauerorgasmus gar kein Orgasmus ist. Stellen wie die Todesverkündigung oder der Trauermarsch in der «Götterdämmerung» können uns nur ergreifen und emotional überwältigen, weil – und wenn – sie penibel kalkuliert sind, dramaturgisch wie musikalisch.
Das ist der große Widerspruch, in den jeder Wagner-Interpret gerät: Narkose oder Kalkül? Rausch oder Analyse? Der Wagner-Dirigent muss einen sprichwörtlich kühlen Kopf haben und ein heißes Herz. In der Umkehrung (heißer Kopf und kaltes Herz) wird meiner Ansicht nach nichts daraus. Wer sich einbildet, die Wagnersche Wirkungsmechanik intellektuell unterlaufen zu können und sich so aller ihrer Fährnisse und potenziellen Abgründe zu entledigen, durch Analyse allein, durch Trockenlegung der Strukturen, der unterschätzt das Dialektische. Denn dann ist auch nur Analyse zu hören, Taktstriche, Notenhälse, Akkorde wie am Rechenschieber. Wer hingegen glaubt, es ginge darum, das Publikum in Trance zu versetzen, in dröhnende Rauschzustände, mit dem Dirigenten als Voodoo-Priester und Medium vorneweg, wird ebenso Schiffbruch erleiden. Weil dann die Klarheit fehlt, die Strenge, die Form, ohne die es keine Kunst gibt.
Von diesem dialektischen Prinzip hat sich Richard Wagner als Komponist und als Baumeister leiten lassen. In Bayreuth sitzt man wie auf harten Kirchenbänken – und plötzlich fängt der «Tristan» an, und man hat das
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