Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Roshi. Unter seiner Wärme und Freundlichkeit verbarg sich ein Wille aus massivem Stahl.
Wir wurden alle in den winzigen Raum geführt, der im Todestrakt als Kapelle diente. Harada Roshi sprach von dem Unterschied zwischen Japan und Amerika und von seinem Tempel daheim, und er erzählte, dass nur noch wenige Asiaten zum Lernen in den alten Tempel kämen; es seien jetzt überwiegend Amerikaner, die lernen wollten. Er sprach leise, rau und schnell. Japanisch wird normalerweise nicht als schöne Sprache beschrieben, aber ich war wie gebannt davon, und ich wünschte mir, ich könnte auch so poetisch und elegant klingende Worte hervorbringen.
Harada Roshi richtete einen kleinen Altar für die Zeremonie her. Das Altartuch war aus weißer Seide, und darauf stellte er eine kleine Buddha-Statue, eine mit kalligrafischen Zeichen bemalte Leinwand und eine Weihrauchschale. Wir alle streuten eine Prise von dem exotisch duftenden Weihrauch als Opfer in die Schale und schlugen dann unsere Sutra-Bücher auf, um mit den entsprechenden Gesängen zu beginnen. Kobutsu musste mir beim Umblättern helfen, denn die Wärter hatten mir Hand- und Fußketten angelegt. In der Zeremonie bekam ich den Namen Koson. Ich liebte diesen Namen und alles, was er symbolisierte, und schrieb ihn überallhin. Außerdem bekam ich mein Rakusu.
Ein Rakusu ist aus schwarzem Stoff, und man hängt es um den Hals. Es bedeckt das Hara, das Energiezentrum, das sich ungefähr zwei Fingerbreit unter dem Bauchnabel befindet – zwei schwarze Stoffstreifen und ein hölzerner Ring oder eine Schnalle. Genäht ist es in einem Muster, das aussieht wie ein Reisfeld aus der Luft, und es soll das Gewand des Buddha darstellen. Es ist der einzige Teil des Gewandes, den die Verwaltung mir im Gefängnis gestatten wollte. Auf die Innenseite hatte Harada Roshi wunderschöne kalligrafische Zeichen gemalt, die bedeuteten: » Große Anstrengung führt unfehlbar zu hellem Licht. « Es war jahrelang mein kostbarster Besitz, bis zu dem Tag, an dem die Wärter es mir wegnahmen.
Das Gemälde auf dem Altar bekam ich auch. Die Kalligrafie bedeutet in der Übersetzung: » Mondstrahlen dringen bis an den Grund des Teiches, aber im Wasser bleibt keine Spur. « Ich hängte es stolz an die Zellenwand.
Ich hatte mich in das Reich des Zen gewagt, um meine negativen emotionalen Zustände in den Griff zu bekommen, und ich hatte weitgehend gelernt, sie zu beherrschen, aber jetzt ging ich meine Übungen noch aggressiver an. Wie ein Gewichtheber legte ich immer wieder ein Pfund mehr auf. An den Wochenenden dauerten meine Zazen-Meditationssitzungen jetzt fünf Stunden pro Tag. Ständig hatte ich meine Gebetsperlen in der Hand und sang meine Mantras. Jeden Tag übte ich mindestens eine Stunde lang Hatha Yoga, und ich wurde zum Vegetarier. Trotzdem erreichte ich keinen Durchbruch in meinem Streben nach der Kensho-Erfahrung. Kensho ist der Augenblick, in dem man die Realität kristallklar erkennen kann; viele Leute sprechen dabei von » Erleuchtung « . Ich sagte nicht laut, was ich dachte, aber allmählich kam mir der starke Verdacht, Kensho sei nichts als ein Mythos.
Ein Lehrer des tibetischen Buddhismus fing an, einmal in der Woche einen Besuch im Gefängnis zu machen, um interessierten Häftlingen Unterricht zu geben. Ich nahm an seinen Sitzungen teil; sie waren speziell auf die Bedürfnisse der Insassen des Todestrakts zugeschnitten. Eine Übung, die er mir und einem anderen Mann beibrachte, heißt Phowa. Sie besteht darin, dass man im Augenblick des Todes seine Energie durch die Schädeldecke treibt. Aber den lebensverändernden Augenblick, den ich anstrebte, erreichte ich nicht.
ZWEI
Mit meinem Eintritt in die Schule wachsen meine Erinnerungen wirklich zusammen und bilden eine Erzählung. Ich kann mich noch an jeden Lehrer erinnern, den ich hatte, vom Kindergarten bis zur Highschool.
Meine Eltern, meine Schwester und ich zogen, wenn ich mich recht entsinne, 1979 in einen Apartmentkomplex namens Mayfair. Wir hatten eine Wohnung in einem Obergeschoss mit einer langen Reihe identischer Türen. Wenn ich zum Spielen draußen gewesen war, fand ich nur nach Hause, wenn ich durch jedes Fenster spähte, bis ich die vertraute Einrichtung sah. Meine Großmutter bezog ebenfalls eine Wohnung in diesem Komplex, eine Reihe hinter uns. In diesem Jahr kam ich in den Kindergarten, und daran erinnere ich mich gut.
Mayfair lag in einem heruntergekommenen Viertel von West Memphis, Arkansas, wenn auch noch nicht
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