Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damien Echols
Vom Netzwerk:
kam, nannte man mich Michael Hutchison. Mein Vater, Joe Hutchison, wollte es so. Meine Mutter Pam hatte einen anderen Namen im Kopf gehabt, aber mein Vater wollte nichts davon wissen. Sie stritten sich deswegen noch jahrelang.
    Das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, steht noch immer in der heruntergekommenen Kleinstadt West Memphis, Arkansas. Im selben Krankenhaus ist meine Großmutter mütterlicherseits, Francis Gosa, zwanzig Jahre später gestorben. Als Kind war ich eifersüchtig auf meine Schwester Michelle, die das Glück hatte, zwei Jahre nach mir auf der anderen Seite der Brücke in Memphis, Tennessee, zur Welt zu kommen. In meiner Jugend habe ich Memphis als meine Heimat empfunden. Wenn wir über die Brücke nach Tennessee fuhren, hatte ich immer das Gefühl, da zu sein, wo ich hingehörte, und ich hätte es nur recht und billig gefunden, wenn ich derjenige gewesen wäre, der dort zur Welt kam. Meiner Schwester war das übrigens völlig egal.
    Meine Mutter und meine Großmutter waren fasziniert von der Tatsache, dass ich nach der Entbindung und der vom Arzt angeordneten Entlassung meiner Mutter aus dem Krankenhaus für die kurze Heimfahrt in einen Weihnachtsstrumpf gesteckt wurde. Sie haben den Strumpf noch jahrelang aufgehoben, und ich musste mir die Geschichte immer wieder anhören. Später erfuhr ich, dass die Krankenhäuser überall im Land so mit Babys verfahren, die im Dezember zur Welt kommen, aber diese Tatsache schien meine Mutter auszublenden. Sie verschloss einfach die Augen, wie sie es von da an ihr Leben lang immer wieder tat. Siebzehn Jahre lang wurde der Strumpf aufbewahrt wie ein kostbares Familienerbstück, ehe er bei einem eher ungeplanten Umzug kurzerhand zurückgelassen wurde.
    Abgesehen von dem Strumpf hatte ich nur ein Erinnerungsstück an meine Kindheit, nämlich ein Kissen. Meine Großmutter schenkte es mir, als ich aus dem Krankenhaus kam, und ich habe darauf geschlafen, bis ich siebzehn war und es bei dem gleichen unheilvollen Umzug zurückblieb. Als Kind konnte ich ohne dieses Kissen nicht schlafen. Es war wie eine Schmusedecke für mich. Am Ende war es nur noch ein zusehends verschlissener Kissenbezug mit einem Knäuel Füllung.
    Ich war im Winter zur Welt gekommen und deshalb auch ein Kind des Winters. Wirklich glücklich war ich nur, wenn die Tage kurz und die Nächte lang waren und ich mit den Zähnen klapperte. Ich liebe den Winter. Jedes Jahr sehne ich mich nach ihm und freue mich auf ihn, obwohl ich immer das Gefühl habe, er stülpt mein Innerstes nach außen. Seine einsame Schönheit tut mir im Herzen weh und trägt in sich die Erinnerung an jeden vorausgegangenen Winter. Noch jetzt, nachdem ich jahrelang in eine Zelle eingesperrt gewesen bin, kann ich zum Winteranfang immer noch die Augen schließen und spüren, wie ich durch die Straßen laufe, wenn alle anderen im Bett liegen und schlafen. Ich erinnere mich, wie das Eis klang, wenn es bei jedem Windstoß in den Bäumen knackte. Die Luft konnte so kalt sein, dass sie bei jedem Atemzug im Hals brannte. Aber nie wollte ich wieder ins Haus gehen und diese Magick versäumen. Ich habe zwei Definitionen für das Wort » Magick « . Die erste ist das Wissen, dass ich durch meinen eigenen Willen Veränderungen herbeiführen kann, sogar hinter diesen Gittern. Die zweite hat mehr mit Erlebtem zu tun: Einen Augenblick lang sehe ich mitten im Profanen die Schönheit. Für einen Sekundenbruchteil wird mir absolut und völlig klar, dass die winterliche Jahreszeit ein Bewusstsein hat, dass eine Intelligenz dahintersteht. Die Magick des Winters bringt ein ungeheures Maß an emotionalem Schmerz mit sich, und trotzdem bin ich am Ende dieser Jahreszeit so traurig, als hätte ich meinen besten Freund verloren.
    Die ersten richtigen Erinnerungen an mein Leben sind die, in denen ich mit meiner Großmutter Francis zusammen bin. Ich nannte sie Nanny. Ihr Mann, Slim Gosa, war das Jahr zuvor gestorben, einen Tag nach meinem Geburtstag. Ich kann mich undeutlich an ihn erinnern: Er fuhr einen Jeep, und ich weiß, dass er sehr nett zu mir war. Nanny war nicht meine leibliche Großmutter. Slim hatte eine Affäre mit einer indianischen Frau gehabt, die meine Mutter zur Welt brachte. Meine Großmutter konnte selbst keine Kinder bekommen und zog meine Mutter groß, als wäre sie ihre eigene Tochter. Meine Eltern, meine Schwester und ich hatten an verschiedenen Orten in der Delta-Region gewohnt – in der Ecke, wo Arkansas, Tennessee und Mississippi

Weitere Kostenlose Bücher